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»Woyzeck« in Potsdam: Schlag nach bei Büchner!

Ein vom Original recht losgelöster »Woyzeck« am Hans Otto Theater in Potsdam

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Die durchaus fabelhaften Schauspieler*innen sind immer die ersten Opfer einer unterkomplexen Inszenierung.
Die durchaus fabelhaften Schauspieler*innen sind immer die ersten Opfer einer unterkomplexen Inszenierung.

Höchste Zeit, die Flugschrift »Der Hessische Landbote« wieder zur Hand zu nehmen, die Georg Büchner 1834 schrieb. Die Gesellschaft seiner Zeit, in der sich Modernität regt, erscheint ihm darin auf unerträgliche Weise gespalten: »Das Leben der ›Vornehmen‹ ist ein langer Sonntag: Sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache: das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.« Mit anderen Worten: Die Menschen leben in einer Welt und doch nicht einer Welt. Er listet dann genau die Einnahmen und Ausgaben des Staatshaushalts im Großherzogtum Hessen auf. Der Hof verbraucht das meiste der Einnahmen für sich und auch beim Militär wird nicht gespart: »Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den Leib, ein Gewehr oder eine Trommel auf die Schulter und dürfen jeden Herbst einmal blind schießen…«

Seine Themen: das Militär, die Naturwissenschaft, insbesondere Medizin und Psychologie auf der einen und das täglich sich für ein bisschen Geld zum Überleben (ebenso zum billigen Vergnügen, was die herrschende Moral empört) verkaufende Volk auf der anderen Seite. Auch in »Woyzeck«, seinem letzten Stück, das Fragment blieb. Daran schrieb Büchner, als er 1837 (mit dreiundzwanzig Jahren) starb. Wer es heute liest, staunt über die expressive Kraft seiner Sprache.

Am Hans Otto Theater in Potsdam hat Annette Pullen »Woyzeck« inszeniert im Bühnenbild von Iris Kraft. Diese spannt quer über die Bühne schmale schwarze Gummiseile, die aus dem Zuschauerraum wie eine heruntergelassene Jalousie wirken, die die Bühne in einen vorderen und hinteren Teil teilt. Die Schauspieler kriechen mühsam hindurch – eine Passage wie zwischen parallelen Welten.

Erstes kurzes Bild: Marie (Mascha Schneider) und Woyzeck (Hannes Schumacher) mit greinendem Baby vor der Jalousie. Die schrillen Babyschreie produziert Mascha Schneider in Bauchrednermanier selbst und wird das den ganzen kurzen Abend von knapp neunzig Minuten über tun. Ok, Baby ist, wenn man etwas auf dem Arm hält, das schreit. Das hat man augenblicklich verstanden, aber es geht immer weiter. Marie wird so zur Karikatur einer genervten Mutter, deren Kind keinen Moment Ruhe gibt, obwohl wir Zuschauer die eigentliche Lärmquelle durchaus lokalisieren können. Dieses Eröffnungsbild ist trivial, weil es nichts sagt (außer, dass Babys schreien) und natürlich gibt es das bei Büchner so nicht.

In Minute zwei regt sich die Welt hinter der Jalousie – und da ist offenbar immerzu Party. Eine glitzerende Diskokugel schwebt herab, der erste Schlager des Abends fällt über uns her, zu den Klängen von »Take my hand« regnet es rote Luftballons. Die Regie unternimmt hier offenbar alles, um die zahlreich anwesenden Schüler nicht mit einem Zuviel an Text zu konfrontieren, schon gar nicht mit Büchner im Original. Den gibt es nur in homöopathischen Dosen und dann oft noch augenzwinkernd wie vom Partyking, dem »Mädscher« (einer wie Falcos »Major Tom«), von dem sich Marie fasziniert zeigt. Der fügt gelegentlich, wenn er einen besonders peinlich wohlformulierten Satz sprechen muss, noch entschuldigend hinzu: »Das is von Büchner«.

Zum Glück ist es ein kurzer Abend, der jedoch dennoch seinen Längen hat (immer wenn Party angesagt ist, also fast die der Hälfte der Zeit). Partylöwe »Mädscher« (Jan Hallmann auf Travestie-Trip) ist eigentlich der Tambourmajor, den Marie, die keinesfalls einfältig ist und bei Büchner anderes als Babyschreie von sich gibt, so persifliert: »Über die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein Löw.« Ein »Mann« wie er im Buche steht. Und der pompöse Militär will mit dem »Weibsbild« gleich eine »Zucht von Tambourmajors anlegen«. Er will sie nehmen, sie wehrt sich kaum und resigniert schnell: »Meinetwegen! Es ist alles eins.« Verführung und Hingabe sehen anders aus. Gewiss, Marie fehlt es an Moral. Das zeigt Büchner und lässt Woyzeck, der sich für ein bisschen Geld zum ausschießlich Erbsen essenden Forschungsobjekt des »Doktors« (Jörg Dathe) macht, sagen, Tugend sei nichts für arme Leute. Mit Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das kann man nachlesen, zu sehen ist davon wenig.

Überhaupt, das Militär streicht die Regisseurin ganz. Auch der machtgeile Hauptmann ist hier bloß »Herr Hauptmann«, so etwas wie ein windiger Unternehmer im Billigsegment. Dabei kreist der ganze »Woyzeck« zu einem Großteil um die Perversionen des Militärs. Büchner weiß genau: Nichts ist schlimmer als eine durchmilitarisierte Gesellschaft, die auf Befehl und Gehorsam basiert. Wenn Krieg ist, wird nicht mehr diskutiert, aber dann hört auch der Mensch auf Mensch zu sein.

Marie singt bei Büchner von Uniformen geblendet: »Soldaten, das sind schöne Bursch…« Wer heute in einer Woyzeck-Inszenierung ausgerechnet das Militär weglässt (und damit auch zwei Hauptfiguren umfunktioniert) muss sich fragen lassen, warum er das tut. Jetzt, wo unsere Uniformträger angehalten sind, diese zu »feierlichen« Anlässen auch zu tragen. Aber hier wird eher im Pseudo-Jugendjargon gekalauert: »Ist die nackt oder beknackt«?

Das ist das Problem dieser eher läppischen Inszenierung: Sie läuft einer imaginären Zielgruppe hinterher, um nicht zu sagen, sie biedert sich an. Dabei ist das gar nicht gewollt. Als ich später auf dem S-Bahnsteig in Potsdam stehe, höre ich einige Jugendliche neben mir über das Stück sprechen, das sie in der Schule gelesen haben. Warum komme bloß in der Inszenierung so wenig Büchner-Text vor, fragen sie und konstatieren – und es klingt so resigniert wie bei Büchner Marie, die vor dem Tambourmajor kapituliert –, dass das wohl Mode sei.

Büchner lesend aber stellt man fest, was er alles in diesem eher kurzen Text behandelt: nicht weniger als das Verhältnis von Ökonomie, Zeit und Geld. Einer aus dem Volk sagt: »Selbst das Geld geht in Verwesung über!« Wäre das, statt der Dauerparty, kein Inszenierungsansatz gewesen? Ebenso wie die Frage nach der Natur des Menschen im Verhältnis zu seiner zivilisatorischen Umformung mittels Wissenschaft und Technik – auch etwas, das Büchner brennend interessiert. Doch hier kommt man über gut gemeintes Schülertheater nicht hinaus.

Ein Wort noch zur Ehrenrettung der durchaus kraftvoll gegen das ihnen verordnete simple Korsett anspielenden Schauspieler, die ihre Ausdrucksfähigkeit immer nur portionsweise zeigen können. Doch zum Ende hin, dem Mord an Marie durch Woyzeck, schlägt es die Zuschauer durchaus in Bann. Hannes Schumacher etwa, mit seiner Bereitschaft, sich auf den Passionsweg eines schuldig-unschuldigen Täters in all seiner Ausweglosigkeit zu begeben, würde ich gern nochmal als Woyzeck sehen. Dann in einer anderen Inszenierung.

Nächste Vorstellungen: 25.2., 5.3., 8.-10.3.

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