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Furcht lähmt Friedenswillige
Peter Brandt über den Ukraine-Krieg, ein Friedensmanifest und internationale Sicherheit
Vor einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Wie haben Sie die ersten Nachrichten aufgenommen? Mit Ungläubigkeit, Entsetzen – oder haben Sie diesen offen militärischen Konflikt befürchtet, vorausgeahnt?
Peter Brandt, 1948 als ältester Sohn von Rut und Willy Brandt geboren, hat Geschichte und Politikwissenschaften an der Freien Universität in Berlin (West) studiert und war aktiv an den studentischen Protesten der 1960er Jahre beteiligt. Nach seiner Habilitation an der TU Berlin wurde er Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen, forschte und publizierte vor allem zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der europäischen Verfassungsgeschichte. Jüngste Bücher unter anderem mit Antje Vollmer »Neubeginn. Aufbegehren gegen Krise und Krieg« sowie mit Michael Müller und Reiner Braun »Selbstvernichtung oder gemeinsame Sicherheit. Unser Jahrzehnt der Extreme«.
Ich habe den russischen Angriff nicht ausgeschlossen, aber bis zum 23./24. Februar 2022 für extrem unwahrscheinlich gehalten. Entsprechend groß war mein Entsetzen. Ich nahm zunächst an, es handele sich um eine Drohkulisse, um zu Verhandlungen mit den USA zu kommen.
Sie gehören zu den Erstunterzeichnern des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Friedensmanifests, das, kaum veröffentlicht, heftige Schelte seitens der Medien und Politik erfuhr. Von einer »Querfront« von rechts bis links ist die Rede.
Bis in die 1980er Jahre, vor allem in der ersten Hälfte der Existenz der alten Bundesrepublik, wurde außerparlamentarische Opposition vielfach als kommunistisch gesteuert oder zumindest beeinflusst diffamiert. Heutzutage wird gern eine Beteiligung oder Einflussnahme von Rechten oder Rechtsextremen behauptet. Wer unbedingt will, kann so etwas leicht konstruieren, eventuell über mehrere Zwischenglieder.
Kann man bei solchen Initiativen wie dem Friedensmanifest überhaupt verhindern, Beifall auch von der falschen Seite zu bekommen? Inzwischen ziehen einige Unterzeichner ihre Unterschrift zurück.
Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite lähmt ebenso wie die Furcht vor Kritik aus den eigenen politischen Reihen. Es kann immer Konstellationen geben, wo politische Gegner oder sogar Feinde aus den unterschiedlichen Motiven protestieren. Den dominierenden Eindruck entscheiden die Kräfteverhältnisse konkret. Werden auf den Demonstrationen am 25. Februar Friedensfahnen, rote Fahnen oder AfD-Fahnen das Bild bestimmen? Friedenswillige dürfen sich nicht erpressen lassen.
Dass der Berliner Politologe Herfried Münkler das Friedensmanifest als »verlogenes, kenntnisloses Dahergerede« abkanzelt und Carlo Masala von der Bundeswehruniversität »erfolgreiche Vermittlung« im Ukraine-Krieg aussichtslos nennt, kann man wohl ignorieren. Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, denunziert Wagenknecht und Schwarzer als »Putinsche Handlangerinnen«. Kratzt Sie das?
Das muss man ertragen, auch wenn vieles abenteuerlich ist, was da teilweise hineininterpretiert wird. Lassen wir den »Diplomaten« Melnyk beiseite – die hierzulande angeschlagene wütende Tonart spricht für die Nervosität derer, die lange fast ausschließlich die öffentliche Debatte beherrschten.
Laut jüngstem ZDF-Politbarometer sollen mittlerweile drei von vier Deutschen für und sogar mehr Waffenlieferungen an die Ukraine plädieren. Vor einem halben Jahr fielen Umfrageergebnisse noch ganz anders, konträr dazu aus. Weil mittlerweile auch die SPD und Olaf Scholz vor dem Druck der Schwarzen, Gelben und Grünen eingeknickt sind?
Wie so oft unterscheiden sich die Ergebnisse solcher Erhebungen je nach konkreter Formulierung der Fragen. Die Initiative von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht wird dazu beitragen, den großen Anteil der deutschen Bevölkerung sichtbar zu machen, der sich Sorgen über eine nicht mehr kontrollierbare Eskalation der Kämpfe in der Ukraine macht. Das Dilemma des Kanzlers besteht darin, dass er die Gefahr zwar sieht und versucht, sie zu berücksichtigen, aber keinesfalls die Bündnisloyalität, insbesondere die Führungsrolle der USA im Westen infrage stellen möchte. Daraus ergibt sich der Eindruck des Zauderns und Lavierens. Es ist wichtig, dass der Druck nicht nur von einer Seite kommt.
Während Annalena Baerbock schon verkündete, »wir«, also Deutschland, stünden im Krieg gegen Russland, will Scholz dies – bis jetzt – nicht gelten lassen. Im Friedensmanifest wird vor einem Überschreiten bisher eingehaltener »roter Linien« gewarnt. Wenn die ukrainische Armee mit Leopard-Panzern oder gar Kampfjets aus Bundeswehrbeständen tatsächlich die Krim zurückerobern will, ist Deutschland definitiv Kriegspartei?
Die Schwelle, bei der das Völkerrecht eine unmittelbare Beteiligung am Krieg annimmt, liegt hoch. Eine andere Frage ist, wie Russland das wahrnimmt und gegebenfalls reagiert. Der Versuch, mithilfe der Nato die Krim zurückzuerobern, wäre in der Tat eine dramatische Eskalation.
Befürchten Sie persönlich einen dritten Weltkrieg oder gar Atomschlag, wie im Friedensmanifest formuliert?
Gelegentliche Drohungen im russischen Fernsehen, London oder Berlin atomar auszuradieren, halte ich für Theaterdonner und Angstmacherei. Eher ist zu befürchten, dass es in militärisch aussichtsloser Lage zum Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen kommt. Auch im alten Ost-West-Konflikt bestand die eigentliche Gefahr nicht in einem Großangriff der einen oder anderen Seite, sondern im unbeachsichtigten Hineinstolpern oder Hineinschlittern in die Katastrophe, verursacht auch durch wechselseitige Fehlwahrnehmung.
Die KSZE respektive OSZE scheint tot, zur Ohnmächtigkeit verurteilt. Aber auch von der Uno und dem Uno-Generalsekretär sind keine konstruktiven Beiträge zu vernehmen. Mehr oder weniger bewährte internationale Sicherheitsstrukturen werden aufgebrochen oder sind schon zerbrochen.
Wären alle Instrumente beziehungsweise Strukturen internationaler Sicherheit definitiv tot, wären die Aussichten für unseren Planeten sehr düster. Sie sind derzeit in der Tat schlecht. Es gilt sich dafür einzusetzen, dass das, was davon noch existiert, nicht zuletzt Rüstungskontrollverträge, bewahrt und zusammen mit der Beendigung des Krieges im Osten Europas, einschließlich der Wiederherstellung staatlicher Integrität der Ukraine, zum Ausgangspunkt der Erneuerung des Konzepts gemeinsamer Sicherheit werden kann. Dieses wurde in den frühen 1980er Jahren, also nicht auf dem Höhepunkt der Entspannung, sondern in einer Phase erneuter gefährlicher Spannungen im Ost-West-Verhältnis und eines erneuten Wettrüstens entwickelt und kam in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ansatzweise zum Tragen. Die derzeitigen Probleme resultieren maßgeblich daraus, dass man nach 1989/90 den Weg nicht konsequent weiterverfolgt hat, nicht allein aus Unverständnis, sondern auch interessenbedingt.
Wie hätte aus Ihrer Sicht der Ukraine-Krieg im Vorfeld verhindert werden können? Und kann es ein Zurück zu Minsk geben?
Es gab auf beiden Seiten keine ernsthafte Bereitschaft, die Abkommen von Minsk einzuhalten. Sollte es in absehbarer Zeit zu einem Friedensschluss kommen, der kein Siegfrieden sein wird, dürfte dieser inhaltlich auf Minsk und das während der zweiseitigen Verhandlungen in den ersten Wochen des Krieges ins Auge Gefasste zurückkommen. Auch Befürworter von entschiedenen Waffenlieferungen an die Ukraine zu Beginn des Krieges gaben als militärisches Ziel die Wiedergewinnung der Waffenstillstandslinie vom 23. Februar 2022 an. Eine Souveränitätseinschränkung hinsichtlich von Bündniszugehörigkeit wäre übrigens nichts gänzlich Neues. Österreich hätte den Abzug der vier Besatzungsmächte 1955 nicht erreicht, wenn es sich nicht zu dauerhafter Paktfreiheit verpflichtet hätte.
Die Staaten des globalen Südens halten sich hinsichtlich ihrer Positionierung zum Ukraine-Krieg merklich zurück. Weil sie unter Kriegen litten und noch leiden, denen die westliche Öffentlichkeit keine oder kaum Aufmerksamkeit schenkte, respektive schenkt?
Was Sie vermuten, spielt sicher eine Rolle. Man muss die unmittelbare Kriegsschuld trennen von der auch innerukrainischen Vorgeschichte und dem weltpolitischen Zusammenhang. Der Krieg hat insofern einen Doppelcharakter. Er ist erstens ein legitimer Verteidigungskrieg der Ukraine und er ist zweitens eine Auseinandersetzung zwischen Russland einerseits und den USA und der Nato andererseits. Dieser zweite Aspekt steht für viele Länder der südlichen Hemisphäre im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dazu kommt, dass die Ukraine für die Ernährung etlicher dieser Länder bedeutsam ist. Wenn es günstigenfalls zu einer Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine kommt, kommen sollte, zunächst durch einen Waffenstillstand, dann werden die wichtigsten Staaten des globalen Südens aus wohlverstandenem Eigeninteresse ihren Anteil daran gehabt haben.
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