Ican warnt vor Atomwaffen: »Das nukleare Tabu weicht auf«

Ein Gespräch über das Ende von New Start, die Unterscheidung von guten und verantwortungslosen Atommächten und die Chancen für Abrüstung

Aktion von Friedensaktivisten aus dem Jahr 2021 auf dem Pariser Platz in Berlin
Aktion von Friedensaktivisten aus dem Jahr 2021 auf dem Pariser Platz in Berlin

Russlands Präsident Putin hat angekündigt, den New Start-Vertrag auszusetzen. Was bedeutet das?

Es ist noch nicht ganz klar, was das genau heißt: Kommt die Zusammenarbeit mit den USA ganz zum Erliegen oder geht es Putin erst einmal nur um das Signal. Aber wenn Russland seine Verpflichtungen tatsächlich aufkündigt, dann ist das letzte Abkommen zwischen den USA und Russland, das ihre Atomwaffenarsenale begrenzt, faktisch außer Kraft getreten. Dadurch geht der letzte Rest Transparenz und Kontrolle verloren. Einem Wettrüsten steht dann nichts mehr im Wege.

Welche Bedeutung hat Transparenz für die Verringerung der Atomwaffengefahr?

Die Voraussetzung dafür, dass man sich irgendwann auf Abrüstungsschritte einigt, ist Vertrauen. Und das entsteht durch Transparenz. Dass man weiß, welche Seite welche Schritte unternimmt oder nicht. Durch Verträge wie das New Start Agreement werden zumindest auf der Arbeitsebene Daten ausgetauscht. Im Modus der nuklearen Abschreckung bedrohen sich einfach beide Seiten gegenseitig mit Atomwaffen. Und das ist keine gute Voraussetzung für Vertrauen.

»Einen Atomkrieg kann man nicht gewinnen und niemals führen.« Das haben die fünf Atommächte zuletzt im Januar 2022 im UN-Sicherheitsrat festgehalten. Wenige Monate später droht Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine. Wie ernst müssen wir das nehmen?

Bei Putin hat man in den letzten Monaten gesehen, dass politische Erklärungen im Ernstfall überhaupt nichts wert sind. Ich denke da zum Beispiel an das Budapester Memorandum, das die Souveränität der Ukraine sichern sollte, oder auch die Invasion auf der Krim 2014. Wir sollten solche Drohnungen daher auf jeden Fall ernst nehmen. Schlicht deshalb, weil die Atomwaffenarsenale aller Atomwaffenstaaten einsatzbereit sind. Die Raketen sind gestellt und warten auf den Befehl. Es gibt immer wieder Übungen und Tests, die verschiedene Szenarien durchspielen. Das ist die Logik der Abschreckung. Man muss politisch und technisch bereit sein und glaubhaft zeigen, dass man unter Umständen gegen alle Kosten diese Waffen einsetzen würde. Am Ende ist es eine Entscheidung im Kopf von sehr wenigen Menschen, die den Ausschlag gibt.

Wie groß ist aus Ihrer Sicht die reale Gefahr aktuell?

Die berühmte Doomsday Clock wurde gerade auf 90 Sekunden vor 00:00, also vor dem Atomschlag gestellt. Was näher ist als in der Kubakrise. Noch stehen wir nicht kurz vor dem Moment, bei dem auf den Knopf gedrückt wird. Denn an den Atomwaffen wurden noch keine Bewegungen festgestellt, da wurden keine Abdeckungen entfernt oder Vorbereitungen getroffen, um jede Sekunde losschlagen zu können. Aber es ist völlig klar, dass durch den Ukraine-Krieg Stress in militärischen Apparaten herrscht. Das kann sehr leicht zu Missverständnissen führen. Und mir macht vor allem die Normalisierung dieses Diskurses Sorge, dass es logisch oder rational erscheint, eine angeblich begrenzte Atomwaffe einzusetzen.

Gibt es schlimmere oder weniger schlimme Atomwaffen?

Es gibt unterschiedliche Sprengköpfe mit unterschiedlichen Stärken. Aber selbst die kleinsten sind ungefähr noch so groß wie das, was in Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurde. Also selbst die kleinen Atomwaffen sind verheerend und ziehen massive humanitäre Konsequenzen nach sich. Kein Land der Welt könnte in irgendeiner Form medizinisch darauf reagieren.

Hiroshima ist bald 80 Jahre her. Hat die Existenz von Atomwaffen mit der Zeit ihren Schrecken verloren?

Das Problem wurde über Jahrzehnte vernachlässigt und verharmlost. Im Zuge des Krieges in der Ukraine nehmen die Diskussionen über taktische nukleare Schläge oder so was wie einen begrenzten Atomkrieg zu. Wenn man so darüber redet, erweckt das den Eindruck, als ob Atomwaffen doch irgendwie akzeptabel sind und weicht damit das nukleare Tabu auf.

Vielleicht muss man heute doch noch mal in Erinnerung rufen: Was passiert, wenn die Drohung wahr gemacht würde?

Alle Atomwaffen sind für den Massenmord gemacht. Sie unterscheiden nicht zwischen Zivilisten oder Soldaten. Einfach alles, was im Weg steht, zerbröselt zu Staub. Die Schockwelle ist etwa 1,5 Kilometer groß, innerhalb dieser Zone sind alle Gebäude und Infrastruktur zerstört. Also auch Infrastruktur, die zur Rettung und Kommunikation nötig wäre. Der Feuerball wird mehrere 100 Meter groß. Es gibt keine Chance, innerhalb dieses inneren Kreises zu überleben.

Auf welche Länder sind derzeit Atomwaffen gerichtet? Anders gefragt: Ist man irgendwo sicher?

Grundsätzlich ist jederzeit jeder Ort in Europa, in Nordamerika und in Russland mit einer Atombombe zu erreichen. Die Trägersysteme, also Interkontinentalraketen, sind an vielen Stellen stationiert und auch auf Schiffen und Booten unterwegs. Da darf man sich keine Illusionen machen: Kein Ort ist davor sicher in Europa, ganz egal, ob man in der Schweiz wohnt oder direkt an der Grenze zur Ukraine.

Die politische Debatte dreht sich vor allem um die atomare Bedrohung durch Russland beziehungsweise die potenzielle Gefahr durch Iran oder Nordkorea. Sehen Sie einen Unterschied in der Gefährlichkeit oder dem Verantwortungsbewusstsein verschiedener Atommächte?

Die Existenz von Atomwaffen ist immer unverantwortlich. Die Atomwaffenstaaten haben ihre Verantwortung nach dem Atomwaffensperrvertrag nicht wahrgenommen, ihr Arsenal komplett abzurüsten. Dadurch haben wir die Situation kreiert, in der wir uns befinden. Ob Menschen von einer französischen oder einer nordkoreanischen Atomwaffe zu Staub zerbröseln, ist auch irgendwie egal. Man darf nicht vergessen: Die westlichen Atomwaffenstaaten schaffen einen Proliferationsanreiz dadurch, dass sie an dem Konzept der nuklearen Abschreckung festhalten. Solange sie so tun, als seien Atomwaffen in irgendeiner Form rational oder akzeptabel, wird es weitere Staaten geben, die nach einer Atomwaffe streben. Die westlichen Staaten haben die Verantwortung, diesen Diskurs zu ändern.

Sehen Sie dafür Anzeichen?

Vor dem Hintergrund der russischen Drohungen zeigen sie natürlich vor allem auf Putin. Die G20 haben ein Statement angenommen, dass Atomwaffendrohungen inakzeptabel sind. Der deutsche Bundeskanzler hat sich ähnlich geäußert, wie auch der chinesische Präsident und der Nato-Generalsekretär. In der Tat kommt es darauf an, atomare Drohungen immer entschieden zurückzuweisen. Auch wenn sich das aktuell gegen Putin richtet, wird den Waffen dabei insgesamt die Legitimation abgesprochen. Das Argument fällt also auch auf die westlichen Staaten zurück. Bei biologischen und chemischen Waffen, Streumunition und Landminen war dieser Weg sehr erfolgreich: Die völkerrechtliche Ächtung führt zur Delegitimierung der Waffe und dann letztlich zur Abrüstung.

Als der Atomwaffenverbotsvertrag vor zwei Jahren in Kraft trat, hat das Hoffnungen geweckt. Bis heute hat ihn kein einziger Atomwaffenstaat unterzeichnet. Wie kann dieser Vertrag mehr Druck entfalten?

Richtig, der Vertrag hat bis jetzt 68 Mitgliedsstaaten und 92 unterzeichnende Staaten, darunter aber keinen Atomwaffenstaat. Ziel muss sein, dass mehr Staaten beitreten, um die Norm zu setzen. Atomwaffen müssen auch in den Nato-Staaten als etwas Negatives angesehen werden, wofür die Kosten von Atomwaffen betont werden müssen. Aber es gibt hier auch Fortschritte. Zuerst waren alle Nato-Staaten strikt gegen den Atomwaffenverbotsvertrag, inzwischen gibt es einige, darunter Deutschland, die sich durchaus konstruktiv mit dem Vertrag beschäftigen. Deutschland hat einen Beobachterstatus und unternimmt kleinere Schritte, zum Beispiel im Bereich der Opferhilfe.

Das Wettrüsten im Ost-West-Konflikt hat eine Zeit der Abrüstungsverträge ausgelöst. Sehen Sie in der jetzigen Eskalation auch Chancen für einen neuen Anlauf hin zu atomarer Abrüstung?

Durchaus. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich auch in solchen Momenten, wo wir kurz vor dem Abgrund stehen, die Vernunft durchsetzen kann. Was es braucht, sind politische Anführer, die das priorisieren. Der G7-Gipfel, der dieses Jahr im Mai in Hiroshima stattfindet, könnte ein Zeitpunkt sein, nukleare Abrüstung wieder ganz oben auf die Agenda zu setzen. Das ist für die Atomwaffenstaaten die Gelegenheit, wo sie ihre Verantwortung ernst nehmen könnten.

Florian Eblenkamp ist Vorstandsmitglied von Ican Deutschland, dem deutschen Zweig der Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen, dem sich weltweit über 450 Organisationen angeschlossen haben. Das internationale Bündnis wurde 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

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