Bis die Bombe platzt

Im Erdreich von Oranienburg liegen noch zahlreiche Blindgänger mit Zeitzündern – die Stadt braucht Hilfe

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Grünen-Landtagsabgeordnete Heiner Klemp kann sich noch gut erinnern, wie es war, als 2008 ein Gutachten mit Karten veröffentlicht wurde, wo in der Stadt Oranienburg noch Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg im Erdreich vermutet werden. Da wurde ihm der Tipp gegeben: »Herr Klemp, schauen Sie sich das nicht an. Sie können nicht mehr ruhig schlafen.« Er hat diesen Ratschlag beherzigt. Aber Nachbarn im Ortsteil Lehnitz seien nach 50 Jahren auf ihrem Grundstück weggezogen, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben.

Klemp erzählt das am Freitag im Innenausschuss des Landtags, der nicht wie sonst im Potsdamer Parlamentsschloss tagt, sondern in der Hauptwache der Feuerwehr an der Julius-Leber-Straße in Oranienburg zu Gast ist. Die Abgeordneten lassen sich von Bürgermeister Alexander Laesicke (parteilos) und von seiner für Brandschutz und Kampfmittelbeseitigung mit zuständigen Sozialdezernentin Stefanie Rose (Linke) das Ausmaß des Problems erklären, das es zu lösen gilt. »Wir sind schon ganz gut vorangekommen. Die Frage ist, wie wir langfristig mit dem Thema umgehen«, sagt der Landtagsabgeordnete Klemp.

»Es gibt keine zweite Stadt in Deutschland, die in der Form systematisch nach Kampfmitteln abgesucht wird«, sagt Bürgermeister Laesicke. Eine Bombenlast von 3300 Tonnnen warfen US-Amerikaner und Briten im Zweiten Weltkrieg über Oranienburg ab. Sie hatten es auf den Bahnhof, die Heinkel-Flugzeugwerke und auf die Auer-Werke abgesehen, in denen die Faschisten ein Uran-Projekt auf den Weg gebracht hatten, weshalb die Gegend heute noch radioaktiv kontaminiert ist. Doch so präzise konnten Bomberbesatzungen seinerzeit nicht zielen. So ziemlich das gesamte Stadtgebiet ist mit Blindgängern belastet. Etwa 12 000 Spreng- und rund 8800 Brandbomben fielen auf Oranienburg. Hinzu kommen – aus heutiger Sicht besonders gefährlich – mehr als 4000 Bomben mit chemischen Langzeitzündern. Bis zu sechs Tage später konnten und sollten diese losgehen, wenn längst Entwarnung gegeben war und Anwohner und Personal der Rüstungsindustrie die Luftschutzkeller verlassen hatten. Es kam allerdings auch vor, dass sich solche Bomben ins Erdreich bohrten, dabei einen Halbkreis beschrieben und mit der Spitze nach oben stecken blieben. Dann löst der Zeitzünder gar nicht aus und die Sprengstoff-Fracht schlummert Jahrzehnte unter der Erdoberfläche, bis die Bombe so sehr rostet, dass sie unweigerlich doch noch explodiert. »Die Frage ist nicht, ob, sondern wann die Bombe detoniert«, beschreibt Dezernentin Stefanie Rose die Gefahr.

Noch während des Zweiten Weltkriegs schickte die SS Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zur Entschärfung von Blindgängern los. Etliche sind dabei ums Leben gekommen. Bomben mit Langzeitzündern sind in den 70er und 80er Jahren hochgegangen, die letzte im Jahr 1993. Dabei wurden von Fall zu Fall auch Menschen verletzt, bis jetzt aber niemand mehr getötet. Aber Bürgermeister Laesicke sagt: »Es ist ein realistisches Szenario, dass eine Bombe explodiert und dass dabei auch Menschen zu Schaden kommen.« Sollte es Tote geben, wäre das Leben in der Stadt für die Bevölkerung von da an ein anderes.

Für die Experten vom Kampfmittelbeseitigungsdienst ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Baugenehmigungen gibt es nur noch, wenn nachgewiesen ist, dass ein Grundstück unbelastet ist. Das Problem: Es sind nach dem Krieg auch Straßen und Häuser über damals nicht bekannten Blindgängern errichtet worden. Wird jetzt eine Bombe entdeckt, müssen die Anwohner im direkten Umfeld sofort ihre Häuser verlassen und dürfen aus Sicherheitsgründen auch nicht zurück, um Wertsachen oder Andenken herauszuholen. Das Bittere dabei ist, dass es vorkommen kann, dass sich Bomben beim besten Willen nicht entschärfen oder abtransportieren lassen. Dann müssen sie kontrolliert vor Ort gesprengt werden, was die persönliche Habe der Menschen komplett zerstören kann.

Seit 1990 sind 219 Blindgänger unschädlich gemacht worden. Ein Drittel sei nicht durch historische Luftbilder von Bombenkratern lokalisiert, sondern anders gefunden worden, berichtet Sozialdezernentin Rose. Im Jahr 2000 hatte die Stadtverordnetenversammlung beschlossen, dass das gesamte Stadtgebiet systematisch abgesucht werden soll. Mit einem zunächst angewendeten Verfahren ließ sich das Erdreich aber nur bis zu einer Tiefe von einem bis anderthalb Metern scannen. Die Blindgänger liegen aber nach bisherigem Kenntnisstand bis zu elf Meter tief. Inzwischen erlaubt moderne Technik, sie auch dort aufzufinden, wozu der Boden allerdings mit Bohrungen wie ein Schweizer Käse durchlöchert werden muss.

Es ist eine Herkulesaufgabe, in einem Menschenalter nicht zu lösen. »Wir werden das Problem vererben«, bedauert der Bürgermeister. Die Kosten für den Haushalt der Kommune belaufen sich ihm zufolge auf durchschnittlich 1,2 Millionen Euro im Jahr – »Tendenz deutlich steigend«. Für einen Abgeordneten, der im Landtag einen Landeshaushalt von über 15 Milliarden Euro absegnet, mag das nicht viel klingen. Doch für Oranienburg sei das eine erhebliche Summe. Da komme in einigen Jahren ein Betrag zusammen, für den man eine Kita bauen könnte. Die Stadt könne die Herausforderung nur mit erheblicher Unterstützung von Bund und Land bewältigen.

Den Landtagsabgeordneten soll deshalb vor Ort ein authentischer Eindruck vermittelt werden, damit sie nicht nur Papiere dazu lesen. »Wir brauchen die vereinten Kräfte aller politischer Ebenen, um die Bomben Stück für Stück aus Oranienburgs Erde zu bekommen«, sagt Laesicke. Privatleute und Firmen müssen für die Munitionsentsorgung auf ihren Grundstücken übrigens selbst etwas bezahlen. Immerhin: Es gibt Fördermittel. Nach etwas mehr als einer Stunde Vortrag und Fragerunde besichtigen die Mitglieder des Innenausschusses noch einen aktuellen Sprengplatz, der ein paar Kilometer entfernt am Weg zur Biberfarm liegt. Mit Feuerwehrautos werden sie dorthin gefahren. Sie dürfen aber zu ihrer eigenen Sicherheit nicht direkt an die Stelle heran, an der hinter aufgetürmten Containern ein Blindgänger im Boden vermutet wird.

Stattdessen steuert ein Feuerwehrmann eine Drohne, die Luftbilder von der Stelle liefert. Die Aufnahmen werden live auf einen Bildschirm im Kofferraum eines Transporters übertragen. So können die Abgeordneten sehen, was hinter den Containern ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dort wirklich ein Blindgänger im Erdreich verbirgt, liegt den Fachleuten zufolge bei 99 Prozent. Hundertprozentige Sicherheit gebe es nie, sagen sie. Es könnte auch ein alter Badeofen sein, der einst dort verbuddelt wurde, um ihn loszuwerden. Mit Sicherheit wisse man das erst, wenn man sich herangegraben habe. Am 22. März soll es soweit sein.

Die Oranienburger sind Evakuierungen mittlerweile gewöhnt. Bis zu 12 000 Einwohner mussten schon ihre Wohnungen und Arbeitsstellen verlassen, wenn Sprengmeister wie Mike Schwitzke vom Kampfmittelbeseitigungsdienst ans Werk gehen und dabei ihr Leben riskieren. »Die Oranienburger und Oranienburgerinnen und ich persönlich haben eine emotionale Beziehung zum Kampfmittelbeseitigungsdienst«, erzählt Bürgermeister Laesicke. »Ich verneige mich vor ihnen«, sagt er über die Sprengmeister.

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