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Wettlauf gegen die Zeit
Der Umgang mit der Erdbebenkatastrophe wird in der Türkei zum Politikum. Im Vorfeld der Wahlen zeigt sich die Opposition noch uneins
Nach dem Erdbeben ist vor dem Erdbeben. Das gilt wohl für weite Teile der Türkei, denn das Land befindet sich auf zahlreichen tektonischen Verwerfungen, die unter starken Spannungen stehen. Zu welchen Auswirkungen es kommen kann, wenn die Platten sich verschieben, wird seit den starken Beben im Südosten der Türkei und dem Norden Syriens im vergangenen Monat wieder deutlich. Doch die Zahlen von 50 000 Toten, Hunderttausenden Verletzten und mehreren Millionen nun Obdachlosen hätten weitaus geringer ausfallen können, wenn entsprechend der geologischen Bedingungen gebaut worden wäre.
Da auch für die Millionenmetropole Istanbul ein starkes Erdbeben erwartet wird, beginnt die dortige Stadtverwaltung nun mit einem umfassenden Programm, das zur Sicherheit der Bewohner*innen beitragen soll. Der politische Umgang mit den Erdbeben könnte entscheidend sein für die kommenden Monate. Die anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sorgen aktuell nicht für tektonische, sondern für politische Spannung. Nachdem Präsident Erdoğan zu Beginn des Jahres verkündete, die Wahlen auf den 14. Mai vorzuziehen, galt das Datum nach dem Erdbeben wieder als ungewiss. Nun bekräftigte er diesen Plan erneut.
Das Oppositionsbündnis Millet İttifakı aus ursprünglich sechs Parteien, angeführt von der kemalistischen CHP, hat nach wie vor keinen Präsidentschaftskandidaten benannt. Als Favorit gilt der CHP-Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu. Doch auch die Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, wurden immer wieder als mögliche Kandidaten ins Spiel gebracht. Wie sich nun herausstellte, war es vor allem die zweitgrößte Bündnispartei, die rechtsextreme İYİ-Partei, die sich gegen Kılıçdaroğlu als Kandidaten wehrte. Beim letzten Bündnistreffen am Donnerstag hatten sich fünf Parteien auf Kılıçdaroğlu geeinigt und wollten dessen Kandidatur am 6. März bekannt geben. Doch am Freitag kritisierte dann die Vorsitzende der İYİ-Partei, Meral Akşener, überraschend harsch diese Entscheidung in einer Pressekonferenz und kündigte an, das Bündnis zu verlassen. In aktuellen Umfragewerten liegt die İYİ-Partei nur vier Prozentpunkte hinter der CHP und will dementsprechend politischen Einfluss geltend machen. Ob sie sich nun dem Bündnis der AKP anschließt und wie die anderen fünf Parteien auf den Ausstieg reagieren, werden die nächsten Tage zeigen.
Während das Wahldatum nun anscheinend feststeht, kann den Zeitpunkt des Istanbuler Erdbebens niemand voraussehen. Daher ist die Vorbereitung darauf ein permanenter Wettlauf gegen die Zeit. Die Istanbuler Stadtverwaltung hat bereits vor zwei Jahren einen ausführlichen Bericht vorgelegt, in dem die Bodenbeschaffenheit einzelner Bezirke und die Verwerfungslinien unter der Stadt einsehbar sind. Darauf greifen nun viele Istanbuler*innen zurück, die in risikoreichen Vierteln wohnen und umziehen wollen.
Die oppositionell regierten Stadtverwaltungen mobilisieren all ihre Kräfte
Wer kann, verlässt die Stadt und zieht in sein Sommerhaus oder einen anderen Zweitwohnsitz. Dies bestätigte der Vorsitzende des Umzugsfirmenvereins Ali Ayılmazdır der online-Zeitung »Ekonomim«: »Vor dem Erdbeben erhielten unsere Firmen zwei bis drei Aufträge am Tag, gerade sind wir auch außerhalb der Saison. Nach dem Beben stieg die Nachfrage auf 20 bis 25 pro Tag.« Die Kundinnen erzählten, dass sie vor allem aus älteren Gebäuden ausziehen würden, aus Angst, diese könnten einem Beben nicht standhalten.
Die Tests zur Beschaffenheit und Sicherheit der Gebäude werden von der Istanbuler Stadtverwaltung kostenfrei angeboten und sind extrem nachgefragt. Allein in den letzten drei Wochen sind rund 100 000 Anträge eingegangen. Nicht nur die Wohnungseigentümer*innen, sondern jede einzelne Mieter*in kann eine solche Überprüfung in Anspruch nehmen. Aufgrund der hohen Nachfrage ist dies jedoch mit einiger Wartezeit verbunden. Ohnehin mobilisieren die oppositionell regierten Stadtverwaltungen all ihre Kräfte, einerseits zur Prävention, andererseits stellten sie in den vergangenen Wochen die dringend benötigte Infrastruktur in den Erdbebengebieten.
Ob die schnelle Hilfe auch mit politischer Unterstützung für die CHP und ihr Bündnis an den Wahlurnen belohnt wird, werden die kommenden Monate zeigen. Denn entscheidend ist auch, ob die längerfristigen Pläne, einerseits zum Wiederaufbau in den Erdbebengebieten, andererseits zur Sicherung von Städten wie Istanbul, Izmir oder Mersin überzeugend sind. Nicht vergessen werden sollte, dass in der vermeintlichen Opposition ebenso Politiker vertreten sind, die in den frühen Jahren der AKP-Regierung Ministerposten innehatten und somit zu Beginn des Baubooms politische Verantwortung trugen.
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