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Salamitaktik der Krämerseelen

Das öffentliche Gesundheitssystem NHS wird seit drei Jahrzehnten unter tätiger Mithilfe des Parlaments zugunsten der Privatwirtschaft ausgeplündert 

  • Sigrun Matthiesen
  • Lesedauer: 8 Min.
National Health Service – Salamitaktik der Krämerseelen

Noch in den 1980er Jahren kursierten in der kleinen BRD immer mal wieder Geschichten über besonders gewiefte Mitbürger*innen, die sich während des Urlaubs in Großbritannien ihre maroden Wohlstandgebisse durch Jacketkronen aufmöbeln ließen. Zahnersatz, der hierzulande schon damals einiges an finanzieller Eigenbeteiligung erforderte, wurde jenseits des Kanals noch aus dem Budget des National Health Service (NHS) bezahlt. Einer öffentlichen, im Wortsinn gemeinnützigen Einrichtung, gewissermaßen Bürger-Versicherung und Rundum-Gesundheitsversorger in einem. Sie stand allen offen, die ihren ständigen Wohnsitz in Großbritannien hatten – was damals noch nicht durch einen Personalausweis nachgewiesen werden musste, eine Strom- oder Wasserabrechnung reichte. Im Notfall wurden auch durchreisende EU-Bürger*innen behandelt.

OXI - Wirtschaft anders denken

Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd.DieWoche« beiliegt. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Schwerpunkt Großbritannien.

Weltmacht, Wiege der Industrialisierung, des Kapitalismus – heute ein gewesenes Imperium. Mit dem Brexit verbunden der Wunsch, wieder Großmacht zu werden, sich nicht einzufügen, sondern zu einstigem Glanz zu gelangen. Aber vielleicht kommt dabei auch nur »Little England« heraus. Ist es also ein Beispiel dafür, wie die Profieure des kapitalistischen Imperialismus altern, schrumpfen und zur Farce werden? In der Märzausgabe wird sich OXI der Ökonomie eines (anderen) Landes widmen. Und was bietet sich da besser an, als Großbritannien, ein Land an dessen Geschichte und Gegenwart sich viel über Ökonomik erzählen lässt.

Die Ausgabe kommt am 10. März 2023 zu den Abonnent*innen, am 11. März liegt sie zum letzten Mal für alle, die ein » nd.DieWoche«-Abo haben, exklusiv bei.
 

Das ist alles längst Vergangenheit, nicht erst seit dem Brexit, der von seinen Propagandisten um Boris Johnson auch mit der Lüge vorangetrieben wurde, die eingesparten EU-Beiträge könnten wöchentlich zusätzliche 350 Millionen britische Pfund mehr für den NHS bedeuten. Das Wohlergehen dieser Institution, 1948 unter der Labour-Regierung von Premierminister Clement Attlee ins Leben gerufen, ist der großen Mehrheit aller Brit*innen bis heute eine Herzensangelegenheit. Bis auf wenige Ausnahmen wollen sie genauso wenig in einem Krämerladen leben, wo alles seinen Preis hat, wie der überwiegende Rest der Menschheit, sondern sich darauf verlassen können, wenigstens im medizinischen Notfall ohne Ansehen der Person versorgt zu werden.

Genau das ist aber nicht mehr gewährleistet, spätestens seit dem im Juli 2022 in Kraft getretenen »Health and Care Act«. Es ist das vorerst letzte einer Folge von Gesetzen, mit denen seit drei Jahrzehnten angeblich versucht wird, die chronische Finanzmisere und die daraus folgende mangelhafte Gesundheitsversorgung zu beheben. Tatsächlich handelt es sich aber eher um eine systematische Ausplünderung und Privatisierung öffentlicher Gelder, die jene Unterfinanzierung, die sie vorgibt beseitigen zu wollen, überhaupt erst verursacht hat. Das belegt eine Analyse* der Gesundheitswissenschaftlerin Allyson Pollock und des Juristen Peter Roderick, die nachzeichnet, mit welcher Salamitaktik das staatliche Gesundheitssystem in England seit drei Jahrzehnten heruntergewirtschaftet wird.

Ursprünglich war der NHS eine ziemlich einleuchtend und übersichtlich konzipierte Einrichtung der allgemeinen und umfassenden Gesundheitsversorgung. Sie stand allen Nutzer*innen im Bedarfsfall kostenfrei zur Verfügung, war aus direkten wie indirekten Steuermitteln finanziert, öffentlich verwaltet und entsprechend auch rechenschaftspflichtig gegenüber den demokratisch gewählten Vertreter*innen der Bevölkerung. Organisatorisch gab es mehr oder weniger eine Dreigliederung zwischen unterschiedlichen Versorgungsarten und Verwaltungsebene: Für die Krankenhausplanung war die Regierung direkt zuständig. Sie hatte sicherzustellen, dass pro 100.000 bis 150.000 Einwohner*innen ein Krankenhaus existierte, welches von den entsprechenden regionalen Verwaltungseinheiten betrieben wurde. Diese waren gleichzeitig dafür verantwortlich, dass es in ihrem Einzugsbereich ausreichend niedergelassene Allgemeinärzte, Apotheken und Optikerinnen gab, deren Gehälter und Verträge ebenfalls durch die Regierung festgelegt wurden. Was den gesamten nicht-medizinischen Bereich anging, also die Unterstützung von längerfristig hilfsbedürftigen Bürger*innen im Einzugsbereich des jeweiligen Distrikt-Krankenhauses, verließ man sich auf die lokalen Verwaltungen. Sie organisierten, in Absprache mit Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten, die nötigen Unterstützungsmaßnahmen und bekamen sie aus dem Etat des NHS finanziert.

Der war, anders als in der BRD, nie von speziellen Krankenkassenbeiträgen abhängig, sondern die Bürger*innen finanzierten ihr Gesundheitssystem indirekt durch einen Teil ihrer Steuern. Damit war das NHS-Budget in den Haushaltsverhandlungen immer Gegenstand politischer Auseinandersetzungen – insbesondere nachdem die Tochter eines Krämerladenbesitzers in ihrer Funktion als Premierministerin verkündet hatte, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gebe. Nur folgerichtig also, dass Thatchers Tory-Partei seitdem an der Zerstörung des staatlichen Gesundheitssystems arbeitet, und sei es auch nur als Trockenübung. Als eine solche lässt sich rückblickend das 1990 mit Tory-Mehrheit verabschiedete Gesetz zur Neuregelung der kommunal organisierten Pflegedienstleistungen bezeichnen, der »NHS and Community Care Act«. Er führte im englischen Gesundheitswesen erstmals eine Unterscheidung zwischen »Auftraggebern« in den Regionalverwaltungen und kommunalen, gemeinnützig organisierten, »Dienstleistern« ein. Letztere hatten eigene Budgets und Haushaltspflichten und mussten jeweils eigene Verträge mit den Auftraggebern aushandeln. Als »interner Markt« wurde diese Spaltung bezeichnet, deren Intention und Folge, so Roderick/Pollock in ihrer Studie, die Entwicklung einer Markt-Bürokratie samt Preisverhandlungen und Konkurrenz gewesen sei. Die Ablösung des Gesellschaftsvertrags durch die Krämerladen-Ideologie. Nicht zufällig nahm sie ihren Anfang in jenem Sektor des NHS, in dem es nicht um spektakuläre Operationen am offenen Herzen ging, sondern um die unscheinbare, überwiegend von Frauen verrichtete Langzeitpflege chronisch kranker, behinderter oder einfach alter Menschen.

Parallel wurden zu jener Zeit die Bürger*innen nicht nur Großbritanniens auch in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge daran gewöhnt, dass der Zugang komplizierter, aufwendiger, häufig teuer und damit ungerechter war als zuvor, was ihnen aber als Wahlfreiheit für Kund*innen verkauft wurde. Public Private Partnership (PPP) bedeutete im britischen Gesundheitswesen, dass die nötigen Investitionsmittel nicht mehr von einer gewählten Regierung bereitgestellt wurden, sondern von Banken, Bauunternehmen, Dienstleistungsfirmen und Finanzdienstleistern. An diese Profitinteressierten band sich der britische Staat in Verträgen mit Laufzeiten von 30 bis 60 Jahren und beauftrage sie nicht mehr nur mit dem Bau und der Finanzierung von Gesundheitseinrichtungen, sondern in zunehmendem Maße auch mit deren Betrieb. Ursprünglich von der Tory-Regierung unter John Major initiiert, nahmen diese Politik erst 1997, unter Tony Blairs New-Labour, richtig Fahrt auf. »Das ermöglichte den Verkauf und die Schließung öffentlicher Krankenhäuser und Einrichtungen in einem enormen Ausmaß«, schreiben Roderick/Pollock und folgern, es habe letztlich den Weg bereitet für Arrangements, bei denen der Staat über Leasing-Verträge von privaten Anbietern Krankenhäuser und Leistungen der Gesundheitsversorgung einkauft. Das schloss auch niedergelassene Allgemeinmediziner*innen ein, deren Praxen gemeinsam mit Bibliotheken und Immobilien als Teil von »Investitionspaketen« an Konzerne verkauft wurden.

Ab 2003 begannen diese Investitionen sich richtig auszuzahlen. Der in jenem Jahr verabschiedete »Health and Social Care Act« sicherte privaten Anbietern das Recht zu, im stationären wie ambulanten Bereich eigenständige Dienstleistungsverträge mit dem NHS abzuschließen. Noch allerdings waren mit diesem Recht auch gewisse Pflichten verbunden. Die Gesundheitskonzerne konnten sich in England noch nicht auf besonders lukrative medizinische Bereiche konzentrieren oder bestimmte »kostspielige« Patienten ausschließen beziehungsweise ihnen Dienstleistungen der Grundversorgung in Rechnung stellen. Diese Profitrisiken wurden dann 2012 durch die Regierungskoalition aus Torys und Liberaldemokraten aus dem Weg geräumt. Mit dem gegen massive Widerstände verabschiedeten neuen »Health and Social Care Act« beendeten sie die Verpflichtung der Regierung, die notwendige ambulante medizinische Versorgung für alle Bürger*innen Englands sicherzustellen. Stattdessen wurden gut 200 sogenannte klinische Auftragskommissionen geschaffen, die jeweils Verträge mit niedergelassenen Ärzten abschlossen und dann in deren Einzugsbereich und auf der Grundlage von deren Patientenstamm eine angemessene stationäre und Pflege-Versorgung sicherstellen sollten. Gleichzeitig verpflichtete das Gesetz alle niedergelassenen Mediziner*innen, mit kommerziellen Methoden um Patient*innen zu werben und zu konkurrieren.

Ein in mehrfacher Hinsicht kostspieliger Wettbewerb: Zum einen wurden in den Arztpraxen wie im NHS-Budget insgesamt zunehmend Ressourcen von der eigentlichen Behandlung abgezogen und in nicht medizinische Bereiche, also Marketing und Verwaltung verlagert. Wofür die kommerziellen Gesundheitsunternehmen selbstverständlich schnell passende Angebote entwickelten, die sich positiv auf ihre Bilanz auswirkten, waren sie doch sehr viel einfacher zu kalkulieren als die fragile menschliche Gesundheit. Zum anderen führte die Konkurrenz zwischen den niedergelassenen Ärzt*innen zu »Patientenhopping« in großem Stil. Das wiederum machte die Budgets der Arztpraxen unberechenbarer und entzog den mit der Krankenhaus-und Pflegeplanung beauftragten Auftragskommissionen endgültig jede seriöse Grundlage. Erleichtert wurde dagegen jede Form der Kooperation von gemeinnützigen Trägern mit kommerziellen Anbietern unter dem Dach des NHS. Erstere durften von nun an 49 Prozent ihrer Einnahmen durch die Behandlung privat versicherter Personen und andere nicht zum NHS gehörende Aufgaben erzielen. Seitdem werden in öffentlichen Krankenhäusern ganze Flure für Schönheitsoperationen freigehalten, während Betten für Notfall-Patientinnen fehlen. Nicht zuletzt war es dieses 2012 verabschiedete Gesetz, das dem NHS die Zuständigkeit für öffentliche Gesundheitsvorsorge entzog, um sie zwischen Innenministerium und lokalen Verwaltungen aufzuteilen, was während der Corona-Pandemie genau zu jenen Zuständen führte, vor denen die Kritiker*innen in den Parlamentsdebatten gewarnt hatten.

Diese für die Anbieter von »Gesundheitsdienstleistungen« lukrative Politik setzte sich auch deshalb durch, weil deren Protagonisten und Profiteure immer leichtfüßiger zwischen Management-Positionen und politischen Ämtern wechselten. Der von 2010 bis 2012 amtierende Tory-Gesundheitsminister, Andrew Lansley, mittlerweile in den Adelsstand erhoben, agierte seit 2015 als Berater in Sachen Gesundheitsreform. Einer seiner Amtsvorgänger, der Labour-Politiker Alan Milburn, der die Krankenhaus-Privatisierung von 1999 bis 2003 vorangetrieben hatte, arbeitete anschließend unter anderem für die Unternehmensberatung PwC, den Finanzinvestor Bridgepoint Capital sowie den spanischen Ableger des US-amerikanischen Centene-Konzerns, die allesamt im Gesundheitssektor Geld verdienen.

Centene habe sich in jüngster Zeit, so Roderick/Pollock, »mit rund 500.000 Patient*innen zum wohl größten Anbieter ambulanter Gesundheitsversorgung in England« entwickelt. Entscheidend dafür war die Übernahme zahlreicher NHS-Verträge im Großraum London Anfang 2021. Kurz nach Geschäftsabschluss wechselte die dafür verantwortliche britische CEO des Unternehmens, Samantha Jones, in die Politik – als Beraterin in Gesundheitsfragen für Premierminister Johnson. Nur folgerichtig also, dass mit dem im Sommer 2022 in Kraft getretenen jüngsten »Health and Care Act« auch die noch verbliebenen Zugeständnisse an Gesundheit als öffentliches Gut einkassiert wurden: Nicht einmal mehr die Notfallversorgung für jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs müssen die neu geschaffenen Verwaltungseinheiten des NHS garantieren. Vielmehr gesteht das Gesetz ihnen und ihren Dienstleistern ausdrücklich das Recht zu, auch Unfall- und Notfall-Patient*innen abzuweisen und anderswohin zu schicken. Sollten sich Bürger*innen darüber oder über andere unmenschliche Zustände bei ihren gewählten Bürgermeister*innen oder Abgeordneten beschweren wollen, wird das meist folgenlos bleiben. Die Lokalpolitik hat nämlich kaum Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen der in ihrem Gebiet tätigen Gesundheitskonzerne, denen zukünftig bestenfalls das Gesundheitsministerium noch politische Vorgaben machen kann. Derzeit wird es geführt von Steve Barclay, einem Tory, der als Jurist auch schon für den Versicherungskonzern Axa gearbeitet hat.
Im Krämerladen sind Kranke nur noch Kollateralschäden.

*Allyson M. Pollock, Peter Roderick: »Dismantling the National Health Service in England«; in: »International Journal of Social Determinants of Health and Health Services«, Vol. 52 No. 4, 10/2022.

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