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SPD Ostpolitik: Weniger Willy Brandt wagen
SPD-Chef Klingbeil skizziert in Polen neue Ostpolitik
Der zweitägige Besuch von Lars Klingbeil in Warschau steht im Zeichen von Willy Brandt. Der SPD-Vorsitzende legte am Mittwoch Blumen am Bildnis des früheren Bundeskanzlers nieder. Die Bronzetafel in der polnischen Hauptstadt erinnert an den Tag im Dezember 1970, als Brandt vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie gefallen war. Damit wollte der Sozialdemokrat um Vergebung bitten für die Verbrechen, welche die Nazis während des Zweiten Weltkrieges auf polnischem Boden begangen hatten.
Auch Klingbeil ist gekommen, um sich zu entschuldigen. Aber nicht für Dinge, die weit zurückliegen, sondern für die deutsche Ostpolitik in der jüngeren Vergangenheit. Es geht um den Umgang mit Russland. Viele Partner der SPD in Osteuropa hatten bereits vor dem Angriff auf die Ukraine und dem Eroberungskrieg eine härtere Gangart gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gefordert. »Wir haben Fehler gemacht«, sagt Klingbeil am Mittwochnachmittag bei der Zeitenwende-Konferenz, die von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert wird. Sie wird in einem Saal abgehalten, der sich im höchsten Stockwerk eines noblen Warschauer Hotels befindet. Die anwesenden Sozialdemokraten aus Ost- und Nordeuropa nehmen die Worte Klingbeils mit Genugtuung auf.
Bereits am Vorabend hat der SPD-Chef seine Ideen einer neuen Ostpolitik skizziert. Die Pressestelle der Parteispitze lädt spontan zu einem Hintergrund mit Klingbeil ein. Dort wird ein Fünf-Punkte-Plan vorgestellt. Dieser sieht mehr Eigenständigkeit für Europa in der Außen- und vor allem in der Militärpolitik vor. Klingbeil will das allerdings nicht als Zeichen gegen die Nato verstanden wissen. »Wir sind sehr froh, dass Joe Biden im Weißen Haus regiert«, erklärt er. Das Bündnis mit den USA im Nordatlantikpakt ist aus seiner Sicht weiterhin eine wichtige Säule.
Die deutsche Politik gegenüber Russland vor der Eskalation in der Ukraine im Februar vergangenen Jahres lässt sich auch durch die Abhängigkeit der Bundesrepublik von russischen Energielieferungen erklären. Durch den Ausbau erneuerbarer Energien, der Infrastruktur für grünen Wasserstoff und grenzübergreifende europäische Energienetze soll die EU aus Sicht von Klingbeil künftig unabhängiger in der Energiepolitik werden.
Solange der Krieg in der Ukraine anhält, wird es aus seiner Sicht keine Normalisierung im Verhältnis mit Moskau geben. Das macht Klingbeil auch zu Beginn der Woche in Kiew deutlich. Mit dabei ist SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Die beiden Sozialdemokraten treffen neben Bürgermeister Vitali Klitschko auch Vertreter der ukrainischen Regierung. Der Besuch ist ebenso wie die Visite in Warschau ein Akt der Versöhnung. Mützenich hatte Ende vergangenen Jahres beklagt, dass die ukrainische Regierung ihn auf eine »Terrorliste« gesetzt habe. In Kiew kam es nicht gut an, dass der deutsche Fraktionsvorsitzende vorsichtig für eine Verhandlungslösung im Krieg mit Russland geworben hatte.
Nun zerstreut auch Mützenich die Zweifel daran, dass er und seine Partei wirklich eng an der Seite der ukrainischen Regierung stehen. Sie sichern dem Land weitere Unterstützung zu. Diese dürfte sowohl finanzielle als auch militärische Hilfe umfassen. Das betont jedenfalls Klingbeil in dem Warschauer Hotel. »Denn die Ukraine kämpft auch für die Werte der EU«, sagt er. Obwohl neben ihm auf dem Podium ausschließlich Sozialdemokraten aus Litauen, Ungarn, Schweden und Polen sitzen, die sich den Kampf für die Rechte der Beschäftigten auf die Fahnen geschrieben haben, kritisiert nicht einer von ihnen, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im vergangenen Jahr ein Gesetz durchs Parlament gebracht hat, wonach Beschäftigten in Betrieben mit weniger als 250 Angestellten die wirksame Organisierung in Gewerkschaften versagt wurde. Das Gesetz soll bis zum Ende des Kriegsrechts gelten. Gewerkschaften und Linke befürchten, dass Kollektivverträge abgeschafft und diese durch Individualverträge abgelöst werden.
Thema der Zeitenwende-Konferenz sind vielmehr die Verbrechen von Wladimir Putin. Klára Dobrev, sozialliberale Politikerin aus Ungarn und Mitglied des Europäischen Parlaments, warnt davor, dass sich die Regierung in ihrem Land an Russland orientiere. Ebenso wie Putin sei auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán einst demokratisch gewählt worden, hätte dann aber ein illiberales System eingeführt und sich zu einem Autokraten entwickelt. »Putin ist inzwischen ein Diktator und jeder Diktator wird eines Tages zu einem Aggressor«, sagt Dobrev.
Andrzej Szejna von der polnischen Partei Nowa Lewica (Neue Linke) und die Litauerin Dovilė Šakalienė sind sich einig, dass die Ukraine nun schnell eine Perspektive für den Beitritt in die EU und die Nato brauche. »Russland hat die Ukraine angegriffen, um sein Imperium zu vergrößern«, meint Šakalienė. Unter den litauischen Sozialdemokraten ist die Sorge groß, dass eines Tages auch ihr Land in den Fokus von Moskau geraten könnte, obwohl es Mitglied der Nato ist und dort zahlreiche Soldaten des Militärbündnisses stationiert sind.
Im Unterschied zu Klingbeil sind alle anwesenden Vertreter der Sozialdemokraten in ihren Ländern Oppositionspolitiker. In Schweden hat die Partei von Stefan Löfven und seiner Nachfolgerin Magdalena Andersson kürzlich ihre Macht an die Konservativen verloren. Zuvor haben die Sozialdemokraten noch die Grundlage dafür geschaffen, dass Schweden Mitglied der Nato werden soll. In Bezug auf die Ukraine vertreten die Schweden eine kompromisslose Linie. Die Unterstützung für das angegriffene Land solle solange weitergehen, bis der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen habe, erklärt Andersson. Die Frage, wie es eines Tages zu Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien kommen könnte, wird nicht einmal angeschnitten. Somit scheint auch der berühmte Satz von Willy Brandt für die europäischen Sozialdemokraten nicht mehr zu gelten: »Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.«
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