AKW Saporischschja nach Raketenangriff stundenlang in Notbetrieb

Europas größte Atomenergieanlage musste mit Dieselgeneratoren betrieben werden

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.
Russland hält das AKW Saporischschja seit einem Jahr besetzt. Seitdem kam es immer wieder zu Zwischenfällen.
Russland hält das AKW Saporischschja seit einem Jahr besetzt. Seitdem kam es immer wieder zu Zwischenfällen.

Einen halben Tag hing das Schicksal von Europas größtem Atomkraftwerk, dem AKW Saporischschja, an einem seidenen Faden, besser gesagt, an 18 Dieselgeneratoren, die das Kraftwerk mit Strom versorgen und die Temperatur des Kühlbeckens hielten. Um vier Uhr morgens wurde am Donnerstag bei einem erneuten russischen Luftangriff die einzige Leitung, die das Kraftwerk mit dem ukrainischen Stromnetz verbindet, zerstört. Auf seinem Telegram-Kanal warnte der ukrainische Atomkonzern und Betreiber der Anlage, Energoatom, vor einer Katastrophe globalen Ausmaßes, sollte die Verbindung nicht innerhalb von zehn Tagen wiederhergestellt werden. Am späten Nachmittag kam die vorläufige Entwarnung: Das AKW ist wieder am Netz.

Bereits Anfang der Woche hatte der Chef der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO, Rafael Grossi, von einer Zunahme der militärischen Aktivitäten um das Kraftwerk berichtet. Man debattiere offen, so Grossi auf der jüngsten Gouverneursratssitzung der IAEO, über Offensiven und Gegenoffensiven in der Nähe des Standorts. »Meine einfache Frage lautet: Warten wir auf einen nuklearen Notfall, bevor wir reagieren?«, zitiert das Portal der IAEO Grossi.

Unfallrisiko im AKW steigt

»Jeden Tag steigt das Risiko eines Unfalls wie in Fukushima. Und warum? Weil die 330-Kilovolt-Reservestromleitung vom AKW Saporischschja in der vergangenen Woche dreimal beschädigt war«, schreibt die ukrainische Atomexpertin Olha Koscharna in einem Beitrag für das Portal nv.ua. Im Herbst, so Koscharna, sei die externe Stromversorgung fünf Mal ausgefallen, das Kraftwerk sei in dieser Zeit ganz auf Dieselgeneratoren angewiesen gewesen. Gefährlich sei auch die psychische Verfasstheit der Mitarbeiter*innen. Viele litten unter Burnout.

So sehr Koscharna einen Unfall fürchtet, an eine mutwillige Störung des Betriebes des AKW durch die Russen glaubt sie nicht. Diese seien keine Selbstmörder. Und die russischen Angriffe vor einem Jahr auf das AKW seien von Russlands Atomenergiebehörde Rosatom koordiniert worden, die wiederum die Aufgabe habe, die Funktionsfähigkeit des Kraftwerks zu erhalten.

Energoatom bereitet sich auf zukünftigen Betrieb vor

Früher oder später würden die Russen das AKW verlassen, ist sich Koscharna sicher. Man habe ihr mitgeteilt, so die Atomexpertin auf nv.ua, dass die Russen bereits eine Inventur des Bestandes im AKW vornähmen. »Wenn man bedenkt, dass sie alles stehlen, auch die Geräte in den Krankenhäusern, dann habe ich keinen Zweifel, dass sie auch im AKW diese Möglichkeit in Betracht ziehen.« Deswegen werde es bei einer erneuten Übernahme des AKW durch die Ukraine noch lange dauern, bis das Kraftwerk wieder wie gewohnt werde arbeiten können.

Energoatom bereitet sich inzwischen auf seine Weise auf die Zeit danach vor. Auf Telegram bittet der Konzern seine Mitarbeiter*innen, Personen zu melden, die mit Rosatom zusammenarbeiten. Diese Personen werde man entlassen und zugleich gegen sie Anzeige erstatten.

Besonders enttäuschend für Energoatom: Der morgendliche Angriff erfolgte just einen Tag nach dem Eintreffen von Uno-Generalsekretär António Guterres in Kiew. Dabei, so zitiert die Nachrichtenagentur Ukrinform Wolodymyr Selenskyj, habe man auch darüber gesprochen, dass Russland seine nukleare Erpressung einstellen solle. »Das AKW Saporischschja muss wieder vollständig unter ukrainischer Kontrolle stehen. Hier geht es nicht nur um die Sicherheit der Ukraine, das ist eine Frage der globalen Sicherheit«, zitiert Ukrinform den ukrainischen Präsidenten.

Ukraine will die Rückeroberung

Wenig Hoffnung setzt man im Land auf eine Einigung mit Russland zu Europas größtem AKW. »Die Situation ist in eine Sackgasse geraten. Unsere Position, die wir auf allen internationalen Plattformen vertreten, ist, dass jegliche Verhandlungen über das AKW Saporischschja erstens auf der Entmilitarisierung der Anlage und zweitens auf dem Rückzug aller Rosatom-Mitarbeiter aus dem Kraftwerk basieren sollten. Drittens ist es wichtig, dass das ukrainische Personal das Kernkraftwerk in aller Ruhe und ohne Druck betreiben kann«, zitiert der Telegram-Kanal strana.best Energieminister Herman Haluschtschenko.

Koscharna setzt auf eine militärische Lösung. »Ich habe schon oft gesagt, noch bevor der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko zu dem Schluss kam, dass die diplomatischen Verhandlungen in eine Sackgasse geraten sind, dass sie nichts bewirken werden. Das einzige wirkungsvolle Instrument ist unsere Armee, die das AKW Saporischschja und Enerhodar ›deokkupieren‹ wird«, so die Atomexpertin. Eine Rückeroberung des AKW wäre nicht einfach. Nach ukrainischen Angaben befinden sich 500 russische Soldaten auf dem Gelände.

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