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- Gemeinschaftsschule in Erfurt
Inklusion beginnt im Kopf
Eine Schule in Erfurt macht vor, wie Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und Voraussetzungen zusammen lernen
Schon bei der ersten von zwei Zahlen würden viele Menschen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und fragen: »Wie soll das nur funktionieren?« Diese Zahl lautet 201. Sabine Becher nennt sie ganz unaufgeregt. Ziemlich genau jedes dritte Kind an der Schule, die sie leitet, hat einen Migrationshintergrund. Von den etwa 620 Schülern der Gemeinschaftsschule am Roten Berg in Erfurt sind es 201 Mädchen und Jungen, die entweder nicht in Deutschland geboren wurden oder bei denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland aufgewachsen ist. Was in Berlin oder vielen westdeutschen Ländern Alltag sein mag: Im ländlich geprägten Thüringen, wie in so vielen Regionen des Ostens, ist so etwas eine Ausnahme.
Überall im Schulgebäude ist dieses Multikulti zu bemerken. Das Sprachgewirr auf den Gängen zeugt davon, wie vielfältig es in dieser Schule zugeht. Zugleich stößt der hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an dieser Schule auf Vorbehalte wegen sprachlicher Barrieren, kultureller Hürden oder Rassismus. Das weiß auch Becher. Ebenso wie es Falko Stolp weiß, der die Schule vor ihr geleitet hat.
Natürlich, sagt Becher, komme es auch in ihrer Einrichtung immer mal wieder zu Vorfällen, bei denen Fremdenfeindlichkeit eine Rolle spielt. Doch dann werde ganz offen und klar angesprochen, dass Derartiges nicht toleriert wird. Womit die Sache meistens erledigt sei, sagt sie. Die Schüler und auch ihre Eltern seien letztlich darauf angewiesen, miteinander auszukommen.
»Das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum wir 2015 und 2016 eigentlich keine großen Probleme hatten, als all die syrischen Kinder zu uns gekommen sind«, sagt Stolp. Und seine Nachfolgerin ergänzt: »Unter den Kindern ist eigentlich immer eine helfende Hand für andere Kinder da.«
An dieser Gemeinschaftsschule leben und lernen aber nicht nur Schüler mit vielen unterschiedlichen biografischen Erfahrungen. Zusätzlich werden hier auch 18 junge Menschen unterrichtet, die – in verschiedenen Ausprägungen – gehörlos sind. Sie nehmen an den gleichen Unterrichtsstunden teil wie auch die hörenden Schüler. Zeitgleich. In den gleichen Klassenräumen.
Die 18 ist die zweite Zahl, die viele Menschen irritieren wird. »Wie soll das funktionieren?«, fragen sie. »Und dann auch noch an einer Schule, an der so viele Schüler einen Migrationshintergrund haben.« Das Lehrerteam um Becher, die Eltern der Schulkinder sowie die Kinder und Jugendlichen selbst zeigen dagegen jeden Tag, dass Inklusion trotz aller Vorbehalte und trotz aller Schwierigkeiten gelingen kann. Selbst hier, inmitten eines Stadtteils im Erfurter Norden, in dem eher ärmere und sozial benachteiligte Menschen leben.
Inklusion bedeutet für Claudia Koch, die Landeselternsprecherin Thüringens, alle Schüler nach ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern: Kinder, die mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen umgehen müssen. Kinder, die sozial auffällig sind. Oder Hochbegabte, die sich in der Schule regelmäßig unterfordert fühlen.
Das Beispiel von gelebter Inklusion an dieser Erfurter Schule ist für eine in Thüringen seit Monaten laufende politische und gesellschaftliche Debatte von einiger Bedeutung. Derzeit werden im Thüringer Landtag nämlich zwei Entwürfe diskutiert, mit denen das aktuelle Schulgesetz des Landes geändert werden soll. Der eine stammt von den rot-rot-grünen Fraktionen. Den anderen haben die CDU-Fraktion sowie die parlamentarische Gruppe der FDP vorgelegt. Während Rot-Rot-Grün der Inklusion an den Schulen über den eigenen Gesetzesentwurf einen noch höheren Stellenwert einräumen und bessere Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht schaffen will, gehen die Überlegungen von CDU und FDP in eine andere – manche wie Bildungsminister Helmut Holter (Linke) würden sagen: gegensätzliche – Richtung.
Im Kern wollen Konservative und Liberale die Förderschulen im Land wieder stärken, weil sie glauben, dass Kinder mit Handicaps dort, abseits von den anderen Kindern, besser betreut werden können. Ein zentrales Argument, das die Kritiker des gemeinsamen Unterrichts immer wieder vorbringen und das auch bei den Abgeordneten von CDU und FDP oft zu hören ist, lautet so: In der Theorie sei die Sache mit der Inklusion an den Schulen ja eine nette Sache. In der Praxis gebe es aber an den allermeisten Schulen viel zu wenig Personal, um das hehre theoretische Ziel des gemeinsamen Unterrichts auch wirklich umsetzen zu können.
Nach den Erfahrungen von Landeselternsprecherin Koch und der Eltern, mit denen sie zu tun hat, liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Positionen – das Beispiel der Gemeinschaftsschule am Roten Berg macht deutlich, dass man die Debatte um Inklusion nicht nur auf die Personal- und damit Geldfrage begrenzen sollte. Dabei weiß Koch natürlich auch, »dass überall Personal fehlt«. Damit an noch mehr Schulen in Thüringen überhaupt die Voraussetzungen für gemeinsamen Unterricht geschaffen werden, müssten viel mehr Schulbegleiter und Assistenzkräfte eingestellt werden. Das sei noch viel wesentlicher, als die Schulen so zu sanieren oder neu zu bauen, dass zum Beispiel Rollstuhlfahrer überall dorthin gelangen können, wo sie sein wollen.
Eine Baumaßnahme sei irgendwann abgeschlossen, sagt Koch. Um Fachkräfte müsse man sich dauerhaft kümmern, und die müssen auch dauerhaft bezahlt werden. Diese Personalfrage sollte man immer mitdenken. Grundsätzlich, so Koch, sei es wünschenswert, alle Schulen im Land so auszustatten, dass dort gemeinsamer Unterricht möglich ist. »Aus meiner Sicht gibt es einen Primat für den gemeinsamen Unterricht«, sagt sie. »Aber nur, wenn die Voraussetzungen stimmen.«
Deshalb will Koch zumindest einige Förderschulen in Thüringen erhalten. Es gebe junge Menschen mit so gravierenden Handicaps, dass sie erst einmal befähigt werden müssten, grundlegende Dinge des Alltags alleine zu bewältigen. Einkaufen. Busfahren. Kochen. Einige Schüler seien mit ihren Handicaps in Förderschulen besser aufgehoben als in inklusiven Schulen, meint Koch. Ebenso wie es auch immer Eltern gibt, die sich gegen eine inklusive Schule entscheiden. »Ich würde in dieser Frage die Eltern abschließend entscheiden lassen«, sagt Koch. »Jede Lebenssituation ist anders.«
Voraussetzung für eine solche Entscheidung müsse aber sein, dass die Eltern sich zuvor fachkundig beraten ließen. Sie müssten auch wirklich in der Lage sein, eine belastbare, wohlüberlegte Entscheidung zu dieser schwierigen Frage zu treffen. »Aus meiner Sicht brauchen wir also das Beste aus beiden Welten«, sagt Koch mit Blick auf die beiden Gesetzesentwürfe, die derzeit im Landtag liegen.
Andererseits betonen neben der Landeselternsprecherin auch die Pädagogen Becher und Stolp sowie die Mutter Christiane Witting, dass nach ihren Erfahrungen Geld und Personal nicht alleine ausschlaggebend seien für eine gelingende Integration an Schulen. Auf die Frage, warum an ihrer Schule Inklusion gelingt, während andere Schulen sich damit schwertun, auch nur wenige Schüler mit Migrationshintergrund oder Handicap bei sich aufzunehmen, sagt Becher: »Weil wir das wollen.« Witting, deren Sohn hörgeschädigt ist, erklärt: »Weil hier alle dafür offen sind.«
Anders als Koch zieht Witting sogar zumindest indirekt den Sinn von Förderschulen in Zweifel. »Ich bin der Meinung, dass alle Kinder gemeinsam beschult werden sollten – Kinder mit Behinderung und ohne Behinderung, mit Förderbedarf und ohne – damit die Gesellschaft offener wird für alle Menschen«, sagt sie. Aus ihrer Sicht sei es besser, das an den Förderschulen vorhandene Personal auf andere Schulen zu verteilen, um flächendeckend noch mehr gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen. »Meine Vision ist, dass alle Schüler gemeinsam unterrichtet werden.«
Neben der Bereitschaft zur Inklusion gibt es in der Schule am Roten Berg auch strukturelle Voraussetzungen, die einen gemeinsamen Unterricht erleichtern. Im Kollegium haben beispielsweise nur wenige Lehrkräfte das Alter von 50 Jahren erreicht. Eine wichtige Hilfestellung für eine gelingende Inklusion leisten auch die beiden Schulsozialarbeiter. Und es gibt den Verein Biling, der sich insbesondere für die Belange von schwerhörigen und gehörlosen Menschen einsetzt und an dieser Schule zum Beispiel einen Theaterworkshop und zusätzliche Sportkurse anbietet.
Aber immer wieder kommen die Gespräche, die man an dieser Schule führen kann, eben darauf zurück, dass Inklusion im Kopf beginnt und sie gewollt sein muss. »Nur so«, sagt Witting, »lernen am Ende wirklich alle zusammen.«
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