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Zwischen Schneeschuhwandern und Spitzensport
Unterwegs auf tief verschneiten »Goldspuren« im Chiemgau
Am A… der Welt zu leben, kann manchmal auch von Vorteil sein. Also zumindest aus der Sicht derer, die letztlich davon profitieren. Als nämlich nach den Wirren der napoleonischen Kriege der Wiener Kongress 1815 Europas Länder neu aufteilte, vergaß man Reit im Winkl, ein idyllisches Fleckchen im Dreiländereck von Tirol, Salzburg und Bayern. Weil man sich nicht einigen konnte, entschieden der Fürstbischof von Salzburg, der Tiroler Erzherzog und der bayerische Kurfürst, die Sache beim Kartenspiel zu klären. Am Ende hielt der Bayer das Glück in den Händen – mit dem Schell-Unter machte er den letzten und entscheidenden Stich. Seitdem gehört der Ort zu Bayern.
- Reit im Winkl: www.reitimwinkl.de
- Wandergebiet Hemmersuppenalm und Hindenburghütte: www.hindenburghuette.de (Von der Touristinfo in Reit im Winkl gibt es einen regelmäßigen Transfer zur Hindenburghütte und zurück.)
- Max-Aicher-Arena Inzell:
www.max-aicher-arena.de - Chiemgau-Arena Ruhpolding:
www.chiemgau-arena.de - Biathloncamp Fritz Fischer:
www.biathloncamp.de - Allgemeine touristische Infos:
www.chiemsee-chiemgau.info
»Da oben könnt ihr die entscheidende Szene sehen«, sagt Sepp Haslberger im Brustton der Überzeugung und zeigt auf ein Wandbild an einem Hausgiebel. »Ist die Geschichte wirklich echt?«, fragt eine Touristin etwas skeptisch. Haslberger zwinkert ihr zu und antwortet etwas kryptisch: »Ich war nicht dabei, aber warum nicht?« Es ist die einzige Geschichte, die die Touristen ihrem Guide am Ende des Tages nicht abnehmen. Das Reit-im-Winkl-Urgestein strahlt so viel Kompetenz aus, dass sie seinen Worten und Wegen bereitwillig folgen.
Die Nacht zuvor hatte es im Chiemgau geschneit. Das überraschte sogar den Sepp, denn als er ins Bett ging, war er sich noch sicher, dass die Tour am nächsten Tag ganz anders verlaufen würde. Wie, bitteschön, will man auch den ersten zertifizierten Premium-Winterwanderweg Deutschlands glaubhaft und authentisch präsentieren, wenn die Sonne jedes Fitzelchen Restschnee längst weggeleckt hat? Doch als Sepp am Sonntag, dem letzten im Februar, aufwachte, traute er seinen Augen nicht: Petrus hatte seine Gebete erhört und über Nacht alles mit einem halben Meter Neuschnee zugedeckt. Was sollte nun noch schiefgehen?
Ein bisschen improvisieren allerdings musste Sepp doch, denn der Wettergott hatte zwar für den richtigen Bodenbelag, aber nicht für die passende Sicht gesorgt. Ansonsten hätte wohl niemand gefragt, warum der gut sechs Kilometer lange Wanderweg »Kaiserblick« heißt. Doch auch wenn sich bei der Wanderung der »Zahme Kaiser« hinter dicken Wolken versteckte, sahen und erfuhren die Gäste viel über die idyllische Gemeinde. Zum Beispiel, dass dank der durch Bergketten geschützten Tallage hier besonders viele Sonnenstunden im Jahr gezählt werden. Das war vielleicht auch ein Grund dafür, dass schon im 18. Jahrhundert einige Wohlbegüterte hierher zur Sommerfrische kamen.
Der touristische Aufschwung allerdings begann erst, nachdem Bayerns König Maximilian III. während seiner Alpenreise im Jahr 1858 auch Reit im Winkl einen Besuch abstattete und begeistert von der Schönheit der Landschaft war. Immer mehr Adlige, Schriftsteller und andere Betuchte wollten sich mit eigenen Augen davon überzeugen. Bald auch schon im Winter, denn die schützenden Berge sorgen auch dafür, dass hier früher und zuverlässiger als anderswo Schnee fällt – und länger liegen bleibt. Heute kommen auf jeden der rund 2400 Einwohner mehr als zwei Gästebetten, die sommers wie winters gut gebucht sind. Ein breit ausgebautes Netz von Wanderwegen, Skiloipen und viele Berge für Kletterer sorgen für Abwechslung und Erholung.
»Wird die Schanze noch genutzt?«, will eine der Wanderinnen von Sepp wissen. »Nein, denn ihr fehlen die modernen Möglichkeiten, sie zu präparieren«, erklärt er und auch, warum sie Franz-Haslberger-Schanze heißt. Keiner kennt die Geschichte besser als er, denn Franz Haslberger war Sepps Onkel. Einer der besten deutschen Skispringer in den 30er Jahren. Er war 1936 und 1938 deutscher Meister auf der 70-Meter-Schanze und nahm an den Olympischen Winterspielen 1936 teil, wo er Platz 17 belegte. Bei den nächsten wollte er weiter vorn landen. Doch dazu bekam er leider keine Gelegenheit mehr. Bereits am ersten Kriegstag wurde der 23-Jährige eingezogen und fiel am 17. September 1939 in Polen. »Da war ich gerade mal drei Jahre alt.«
Die Gäste schauen sich zweifelnd an: Nicht wegen der traurigen Geschichte, sondern weil keiner glauben kann, dass Sepp schon 87 Jahre alt sein soll. Denn was seine Fitness anbelangt, so steckt er noch alle in der Gruppe in die Tasche. Schon auf dem relativ flachen »Kaiserblick«-Weg schnappen einige nach Luft, während Sepp munter ausschreitet. Was der frühere Lehrer wirklich drauf hat, merken sie allerdings erst am nächsten Tag, als sie sich mit ihm auf eine Schneeschuhwanderung auf der gut 700 Meter höher gelegenen Hemmersuppenalm auf den sechs Kilometer langen »Panoramaweg« machen.
Ausgangspunkt ist die Hindenburghütte hoch über Reit im Winkl auf 1260 Metern. Gebaut wurde sie 1926 auf Befehl von Reichspräsident Paul von Hindenburg als Schutzhütte für seine Gebirgsdivision. Heute ist sie ein beliebter Alpengasthof. Später will hier auch die Gruppe einkehren, doch erst einmal wird Sepp sie in die Geheimnisse des Schneeschuhwanderns einführen. Sieht bei ihm ganz einfach aus und wenig anstrengend. Eine Meinung, die sich sehr schnell ändern wird. Denn mit den ungewohnten »Tellern« unter den Füßen läuft es sich merkwürdig, und anfangs hat jeder damit zu tun, nicht über seine oder andere Füße zu stolpern.
»Das Tolle beim Schneeschuhlaufen ist, dass man locker durch den Tiefschnee gehen kann, ohne zu versinken«, erklärt Sepp. Was er nicht sagt, ist, wie sehr es anstrengt, sich eine Spur durch einen halben Meter unberührten Neuschnee zu »erarbeiten«. Da muss man schon ordentlich die Füße heben, um vorwärtszukommen. Bald schon brauchen alle eine Pause, nur Sepp scheint das nichts auszumachen. Er hat sogar noch reichlich Luft, um etwas über die Geschichte und Gegenwart der Hemmersuppenalm zu erzählen, deren Name vom Weißen Germer kommt, einer giftigen Pflanze, die – hier Hemmer genannt – in dem moorigen (suppigen) Gebiet besonders gut gedeiht.
Im Chiemgau »schneit’s« öfter auch Gold bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, ist es doch das Zuhause vieler Spitzensportler. Rosi Mittermaier beispielsweise wuchs auf der Winklmoos-Alm hoch über Reit im Winkl auf, lernte dort Skifahren und krönte ihre Laufbahn bei den Olympischen Winterspielen 1976 in Innsbruck mit zwei Goldmedaillen.
Ein paar Kilometer entfernt in Inzell lernte Anni Friesinger, eine der bekanntesten Eisschnelläuferinnen der Welt, das Kufenlaufen. Runde für Runde lief sie sich auf der Kunsteisbahn der Max-Aicher-Arena ihrem Ziel, die Beste der Welt zu werden, entgegen. Ein jahrelanges, hartes Training, das sich am Ende auszahlte. Anni konnte schon unter Bedingungen trainieren, von der andere Olympiasieger vor ihr nur träumten: auf einer stets aufs Feinste präparierten Eisbahn unterm Hallendach. Da hatte es Erhard Keller, der 1968 und 1972 olympisches Gold im Sprint holte, noch schwerer. Um zu seiner ersten Trainingsfläche, dem zugefrorenen Frillensee zu gelangen, musste er zunächst eine Stunde Bergwandern hinter sich bringen. Eine Kunsteisfläche, geschweige denn eine mit allen technischen Rafinessen ausgestattete ganzjährig nutzbare Halle gab es noch nicht.
Ohne den Frillensee und die geniale Idee, ihn als Natureisbahn zu nutzen, wäre Inzell vielleicht heute noch ein verschlafenes Dorf, erfährt die Wandergruppe auf dem Weg, den Erhard Keller in den 60ern zwischen November und April fast täglich zum Training lief: Zum etwa fünf Kilometer vom Ort entfernt liegenden See auf rund 922 Metern. Er gilt als der kälteste See Mitteleuropas und hat oftmals schon im November eine tragfähige Eisfläche.
1959 begann man, das Natureis so aufzubereiten, dass es für Training und Wettkämpfe nutzbar ist. Das gilt als die Geburtsstunde des Eisschnelllaufsports in Deutschland. 1960 fanden hier zum ersten Mal Deutsche Meisterschaften statt, 1963 zum letzten Mal. Dann entstand in Inzell eine Natureisbahn, die 1968 zum Kunsteisstadion umgebaut und 1984 komplett erneuert wurde. Die Überdachung dieser Eislaufarena im Jahr 2010 machte die 400-Meter-Bahn zu einer der schnellsten Eisbahnen der Welt. 2011 wurde in Inzell erstmals eine Weltmeisterschaft ausgetragen.
Der Frillensee wird übrigens immer noch gern besucht. Von Einheimischen und Touristen. Die schauen ihn sich gern an – ansonsten bleibt er unberührt. Zum Baden ist er einfach zu kalt, und wer will schon meterhohen Schnee von der Eisfläche räumen, um ein paar Runden zu drehen? Das kann man einfacher und komfortabler in der Halle im Ort. Denn die steht nicht nur Spitzensportlern, sondern auch Hobbyläufern offen.
Gleich um die Ecke liegt Ruhpolding, eine Gemeinde, die vor allem für Biathleten ein Sehnsuchtsort ist. Drei Mal schon – 1979, 1985 und 1996 – hatten hier Weltmeisterschaften stattgefunden. Damit Ruhpolding auch für die WM 2012 den Zuschlag bekommt, wurde die alte Chiemgau-Arena für rund 16 Millionen Euro zu einer modernen Trainings- und Wettkampfstätte umgebaut. Seitdem kommen Sportler aus aller Welt regelmäßig hierher zum Training. Wer will, kann ihnen beim Lauf- und Schießtraining gern zuschauen und sich auch selbst mal ausprobieren.
Bei rund zweistündigen Führungen durch die Arena bekommen Touristen einen Einblick in die »Herzkammer des Biathlonsports«, wie die Mitarbeiter sie gern nennen. Dabei erfahren sie auch so allerhand, was sich hinter den Kulissen abspielt: Sie können einen Blick ins Pressezentrum werfen, erfahren, dass das Gewehr bei Männern und Frauen mindestens 3,5 Kilo wiegen muss und dass jeder Sportler im Jahr allein beim Training rund 15 000 Schuss abgibt, dass der Abstand zur Schießscheibe 50 Meter beträgt und der Durchmesser 11 Zentimeter beim Stehend- und 4,5 Zentimeter beim Liegendschießen.
Der Höhepunkt für viele Besucher allerdings ist es, sich selbst am Gewehr zu versuchen. Auch die Wandergruppe will es wissen und hat fürs erste Mal den besten Trainer an ihrer Seite, den man sich vorstellen kann: Biathlonlegende Fritz Fischer, Goldmedaillengewinner der 4x-7,5-Kilometer-Staffel bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville. Er ist das lebende Beispiel dafür, dass man mit Talent, Ehrgeiz und Disziplin alles schaffen kann, was man will. Fischer war 18, als er zum ersten Mal auf Brettern stand und Biathleten beobachtete. Da wusste er, dass das genau sein Sport ist.
Heute betreibt der 66-Jährige ein eigenes Biathloncamp und gibt Kurse für jedermann. Man muss ja nicht gleich Leistungssportler werden wollen. Aber wenn man die winzige schwarze Scheibe trifft, fühlt man sich als absoluter Gewinner. Den Preis für die Wandergruppe übrigens sponserte Petrus: Am letzten Tag ihrer Tour schickte er »Kaiserwetter«, und der »Zahme Kaiser« zeigte sich doch noch in aller Pracht und machte große Lust aufs Wiederkommen.
Die Recherche wurde unterstützt von
Chiemgau Tourismus e. V.
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