Reimar Johannes Baur: Die Kraft des Sanften

Zum Tod des Schauspielers Reimar Johannes Baur

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.
Reimar Joh. Baur
Reimar Joh. Baur

Man stelle sich das vor! Der bedeutende Wolfgang Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, ist bereit, einen jungen Karl-Marx-Städter Schauspieler zu engagieren. Aber der lehnt ein Vorsprechen in der Hauptstadt ab, er fürchtet eine Art oberflächliches Schnellgericht über sein Talent. Und was geschieht? Der so düpierte Intendant kann’s nicht fassen – und fährt doch tatsächlich in die Provinz. Zweimal Charakter, und die Welt scheint gut zu sein, wo Vorgabe und Einlenken sich derart aufeinander zu bewegen. Erinnerung an einen Anachronismus.

Reimar J. Baur, der 1928 in Berlin geboren wurde, kam also über Greiz, Cottbus, Karl-Marx-Stadt 1960 »für ewig« ans Deutsche Theater. Bei vielen seiner Gestalten hatte ich den Eindruck: Da steht ein Mensch, der will sich bemühen, den Schmerz zu lieben. Da fügt sich einer in die Welt mit allem, was das kostet. Nur seine Sanftheit war weltüberwinderisch. So kommen die Sonderlinge ins Licht, jene, die früh über sich erfahren, dass sie lebend doch nur komisch wirken – gibt es etwas, das bitterer ist?

Baur war am Deutschen Theater der große, Herz bewegende Traurige, er war der immer scheue Kindskopf, dessen Figuren in all ihrer Weichheit oft nur einen einzigen, eisernen, unglücklichen Instinkt hatten: zu verhindern, dass ihnen etwas gelingt. Viele seiner Rollen trugen ein Selbstverhinderungsuhrwerk im Bauch. Die Realität hat meist leichtes Spiel mit solchen Menschen. Die Realität vergisst sie aus reinen Effektivitätsgründen. Es sind dies aber die Unvergesslichen.

In Thomas Langhoffs »Onkel Wanja« gab er den verarmten Schmarotzer Telegin. Leise, nachdrücklich – ein tolpatschig Störender, ein rührendes, pockennarbiges Wesen auf einem kalten Schachbrett der verletzten oder nur gespielten Gefühle. Baurs Tschechow-Interpretation: der Wirklichkeit gleichsam ersterben, um dem Theater Leben zu geben. Was war er alles?! Molières erotischer Flaneuer Don Juan, bei Besson, mit Rolf Ludwig als Sganarelle; der flinke Schnorrer Joxer Daly, saufender Tragiker oder tragischer Säufer in O‹Caseys »Juno und der Pfau«, Adolf Dresens Meisterstück mit  Elsa Grube-Deister, mit Dieter Franke, Alexander Lang, Trude Bechmann; dann der gemütvoll-tapsige Gattenmörder Henry Fowle im »Pflichtmandat«, mit Jürgen Holtz, Regie: Ulrich Engelmann; der Gloster in Solters »König Lear« mit Fred Düren, Klaus Piontek, Herwart Grosse. Dieser Gloster: vom Trottel zum Tapferen, vom Plappersack zur Kontur.

Und dann der berühmte Volksliederabend des DT, Baur musizierend auf seiner noch berühmteren singenden Säge – war das nicht auch erst gestern? Nein, nichts war gestern. Lange vorbei. Wir sagen zum Schauspieler nicht gern: lange vorbei – weil wir es zu uns selbst nicht gern sagen. Baur war ein Schauspieler, der Vokale schmeckte, der singend sprach und sprechend sang, der das Absonderliche geradezu als Melodie in den Seelen suchte, ja: herauskramte; er ließ sich Zeit für seine Regungen, war kauzig, täppisch, nörglig, nuschlig; Mitleid wurde durch Witz gebrochen, und diese Figuren trieb eine irrwitzige Lust auf Unschuld um – in einer Welt, die vor Schuld nur so strotzt. Ein träumerischer Fremdkörper; wenn er lachte, breit lachte, dann lächelten sogar die Finsternisse des Dramas kurz mit.

Bei der Defa spielte er den Johannes Kepler im gleichnamigen Film von Frank Vogel, und im Fernsehen mit Senta Berger in »Er und Sie«, einem Frank-Beyer-Film. Aber im wahren Sinne wesentlich fand ich seinen Apotheker Korbinius in Vera Loebners immer wieder neu zu rühmendem Adlershofer Zweiteiler »Späte Ankunft«, dem wunderbaren Film mit Kurt Böwe und Gudrun Ritter. Böwe: der Weg eines Stadtarztes zum Landarzt: Verlebendigung eines gelangweilten Bürgers. Und Baur als todkranker, aber gelassener Außenseiter: bewegende Studie eines guten, treuen Menschen, der abseits aller Konventionen den stillen, kleinen Frieden der Relativität genießt. Der eine kindliche Kraft hat, nicht dazugehören zu wollen – zu jener Dummheit, die den Ton angibt. 

Nun ist dieser so liebenswerte Künstler im Alter von 95 Jahren gestorben.

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