»Direkte Brutalität« in Lützerath

Grundrechtekomitee veröffentlicht ausführlichen Bericht zur Räumung des Braunkohledorfes

Nach einer Großdemonstration prügelte die Polizei am Rande von Lützerath auf Demonstranten ein.
Nach einer Großdemonstration prügelte die Polizei am Rande von Lützerath auf Demonstranten ein.

Glaubt man Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul, war die Räumung des von Aktivisten besetzten Braunkohledorfes Lützerath vor zwei Monaten ein Musterbeispiel für einen Polizeieinsatz mit Augenmaß. Die eingesetzten Beamten hätten »hochprofessionell« gearbeitet, erklärte der CDU-Politiker in der ARD-Talkshow »Anne Will«. Dass es exzessive Polizeigewalt gegab, wie es Aktivisten berichtet und Medien dokumentiert hatten, wies Reul vor dem Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags zurück. Von einem Polizisten will er stattdessen gehört haben, Demonstrierende hätten am Tagebau Garzweiler II »kriegsähnliche Zustände angestrebt«.

Wesentlich differenzierter stellt dies ein Bericht dar, den das Komitee für Grundrechte und Demokratie anlässlich des Internationalen Tages gegen Polizeigewalt am 15. März herausgibt und der »nd« vorab vorlag. Beim Vorgehen gegen die Proteste hätten Beamte lebensgefährdende Situationen in Kauf genommen, heißt es darin. Anlässlich der Großdemonstration vom benachbarten Keyenberg am 14. Januar sei die Polizei »massiv gewaltvoll und unverhältnismäßig« gegen die Teilnehmer vorgegangen. Auch bei anderen Versammlungen und Aktionen seien Beamte durch »direkte Brutalität« aufgefallen.

Das in Köln ansässige Grundrechtekomitee war im Zeitraum von beinahe zwei Wochen mit 14 Ehrenamtlichen vor Ort. Deren 56 Seiten starker Bericht entstand auf Basis von eigenen Beobachtungen, Gesprächen mit Aktivisten und Beiträgen von Demo-Sanitätern. Ebenfalls ausgewertet wurden Meldungen des Ermittlungsausschusses, in dem auch Anwälte mitarbeiten. Viele der Angaben stammen auch aus der Medienberichterstattung. Zudem wurden Aussagen von Polizei und Landesregierung aufgenommen und anderen gegenübergestellt.

Selbst in übersichtlichen Situationen habe die Polizei diverse »Gewaltmittel« eingesetzt, darunter Hunde, Wasserwerfer und Pfefferspray, führen die Berichterstattenden aus. Unvermittelt und wahllos hätten Beamte mit Schlagstöcken und Faustschlägen bei einer hohen Zahl von Demonstrierenden Verletzungen an Kopf, Gesicht, Bauch, Schlüsselbeinen und Rücken verursacht. Polizeipferde seien in stehende und sitzende Menschengruppen geritten, Protestierende eingekesselt und teilweise ohne Zugang zu Toiletten oder medizinischer Versorgung gelassen worden.

Nach Angaben des Ermittlungsausschusses mussten mindestens acht Personen mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Demo-Sanitäter schreiben von deutlich mehr Fällen. Sie berichten von Platzwunden, gebrochenen Nasen und ausgeschlagenen Zähnen. Diese Verletzungen könnten »nur durch gezielte und potenziell lebensbedrohliche Schläge von der Polizei« entstanden sein, so das Grundrechtekomitee. Es sei deshalb davon auszugehen, dass Beamte systematisch auf die Köpfe von Versammlungsteilnehmern geschlagen hätten.

Reul hatte hingegen im Innenausschuss behauptet, derartige Berichte seien unwahr. »Ich unterstelle, dass eine bewusste Strategie dahintersteckt, um dafür zu sorgen, dass die Polizei schlecht dasteht«, sagte der Innenminister in einem Interview mit dem Münchener »Merkur«. Auch rund 100 Polizisten seien verletzt worden, hatte Reul im Landtag mitgeteilt. Viele von ihnen seien im Schlamm umgeknickt, fünf hätten im Krankenhaus behandelt werden müssen.

Die von unzähligen Menschen erlebte und beobachtete systematische Polizeigewalt werde von Politik und Polizei als »Einzelfälle« verharmlost, hält das Grundrechtekomitee dagegen. Es brauche deshalb eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Polizeigewalt »als inhärentem Teil des polizeilichen Gewaltmonopols«.

Seit seiner Gründung 1980 beobachtet das Grundrechtekomitee Demonstrationen. Im Fokus steht dabei, ob das Recht auf Versammlungsfreiheit gewahrt bleibt. Auch rund um Lützerath sei dieses »auf mehreren Ebenen« verletzt worden, schreiben die Beobachter.

Mit einer von der Polizei in Aachen erlassenen Allgemeinverfügung und dem damit einhergehenden Aufenthalts- und Betretungsverbot sei der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985 missachtet worden. Darin hatten die Richter betont, dass Demonstranten den für ihr Anliegen geeigneten Ort des Protests selbst wählen dürfen. Dies gelte auch für Versammlungen ohne Anmeldung sowie auf öffentlich zugänglichem Privatgelände, erinnert das Grundrechtekomitee. Viele der im Besitz der RWE Power AG befindlichen Flächen seien zudem nicht als Firmengelände gekennzeichnet gewesen.

Selbst die Besetzung des Braunkohledorfes hätte dem Komitee zufolge als Teil einer Versammlung gewertet werden müssen – jedenfalls, solange sich die Demonstrierenden dabei gewaltfrei räumen lassen »und auf diese Weise ihre Meinung zum Ausdruck bringen«, wird im Bericht betont.

Gegenüber »nd« kritisierte das Grundrechtekomitee auch, dass fast 100 Personen in den sogenannten Verbringungsgewahrsam genommen und in einem mehr als 70 Kilometer entfernten Dorf in der Eifel ausgesetzt worden seien. Eine solche Maßnahme sei im »ohnehin schon sehr repressiv ausgestalteten Polizeigesetz von NRW nicht einmal vorgesehen«. Trotzdem sei dergleichen seit Jahren gängige Praxis.

Indem die schwarz-grüne Landesregierung und die Polizei das Eigentumsrecht des RWE-Konzerns höher gewichteten als die Grundrechte von Zivilgesellschaft und Medien, machten sie sich zu »Handlangern eines Energiekonzerns«, heißt es im Fazit der Demonstrationsbeobachter. Eine brutale und aggressive Polizeistrategie bei großen Versammlungen sei zudem »das Gegenteil von Deeskalation«. Als einen Grund für das rücksichtslose Vorgehen der Polizei vermutet das Grundrechtekomitee, dass man angestrebt habe, die Räumung von Lützerath noch vor der Großdemonstration am darauffolgenden Samstag abzuschließen. Dies hätten auch Abriss- und Fällarbeiten gezeigt, die oft ohne ausreichenden Sicherheitsabstand zu Besetzern erfolgt seien. »Es ist allein dem Glück zu verdanken, dass es dabei keine schweren Verletzungen oder Schlimmeres gab.«

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