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Erdbeben in der Türkei: Schlimme Zustände für Frauen und Queers
Nach der »Jahrhundert-Katastrophe« in der Türkei und Syrien ist die Lage insbesondere für Frauen und queere Personen gefährlich, warnt Sibel Schick
Seit dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien, das auch als Jahrhundert-Katastrophe bezeichnet wird, ist die Situation in den betroffenen Gebieten katastrophal menschenunwürdig – insbesondere für Frauen und Personen der LGBTIQ+-Community. »Alle Ungerechtigkeiten, die Frauen schon ohne einen Ausnahmezustand erleben – so war das auch während der Pandemie –, steigen exponentiell während eines Ausnahmezustandes«, betont etwa Gülsüm Kav, Aktivistin für Frauenrechte, in einem Interview mit dem Fernsehsender »Bloomberg«. Sie ist Sprecherin der Plattform »Wir werden Frauenmorde stoppen«, die in verschiedenen türkischen Städten aktiv ist. Derzeit sei neben Gewalt auch »der Zugang zu Hygieneartikeln und Sanitäranlagen ein dringendes Problem«, so Kav über die Situation in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten.
»Am elften Tag konnte ich mich waschen«, erzählt eine junge Ärztin aus Hatay dem türkischsprachigen Video-Format der Deutschen Welle »+90«. »In einem Haus in dem oberen Dorf floß wieder Wasser. Ich stellte mich an die Schlange, um mich dort zu waschen.« Ihre Mutter habe trotz der Wechseljahre wieder angefangen zu menstruieren. »Stellen Sie sich vor, Sie menstruieren und es gibt keine Toiletten, kein Wasser zum Händewaschen, keine Seife«, erzählt die junge Frau, die wenige Tage nach dem Erdbeben in ihrem Dorf eine Anlaufstelle gründete, wo sie Menschen medizinisch unterstützt.
Laut dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) leben zurzeit über vier Millionen Menschen im gebärfähigen Alter und über 200.000 Schwangere in den vom Erdbeben betroffenen türkischen Gebieten. Die Versorgung ist jedoch nicht annähernd adäquat: »Die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnissen ist in den betroffenen Gebiet ein ernstes Problem, insbesondere der Zugang zu Menstruations- und Hygieneprodukten und sauberer Unterwäsche. Sowohl die vom Erdbeben Betroffenen als auch die Freiwilligen, die in der Region arbeiten, haben nur sehr begrenzten Zugang zu sauberem Wasser, Duschen, Toiletten und Handwaschstationen«, heißt es in dem zweiten Erdbeben-Statusbericht des UNFPA weiter.
»Eines unserer größten Probleme ist es, einen sicheren Ort zu finden. Selbst unter normalen Bedingungen war es schwer, aber mit dem Erdbeben verdoppelte sich diese Situation«, sagt Mehmet aus der Gruppe »Antep Queer LGBTI+ Solidarity« der Nachrichtenplattform »bianet« in Bezug auf die Situation von LGBTIQ+ im Erdbebengebiet. »Der Hass hat so stark zugenommen, dass viele unserer trans und LGBTI+-Freund*innen nicht zu Sammelplätzen und Unterkünften gehen können, um Unterstützung zu erhalten.«
Die einen erinnern in jeder Krise daran, dass Menschen, die mehrfach marginalisiert werden, auch in Ausnahmesituationen mehrfach betroffen sind. Die anderen rufen wiederum auf, für einen Moment ethnische, religiöse oder politische Differenzen zu vergessen, als zählten diese Differenzen nicht, als wären alle gleichermaßen betroffen. Mit der Konsequenz: Wir bleiben an Punkt null, fangen jedes Mal von vorne an, wir erklären jedes Mal die Basics. Warum?
»So wie in jeder Krise beobachten wir auch heute einen Anstieg an Gewalt und sexualisierter Gewalt«, erklärt Gizem Karaköçek, die vor Ort ehrenamtlich hilft, gegenüber »+90«. Und die feministische Anwältin Fulya Dağlı betont: »In Sachen häusliche Gewalt ist der Anhaltspunkt die Verwaltung. Allerdings ist die Verwaltung aktuell zusammengebrochen. Und das ist sehr dringend und muss sehr schnell behoben werden.« Ayşe Kaşıkırık, Vorsitzende der Stiftung »Globale Gleichheit und Netz der Inklusion«, sagt im Gespräch mit der türkischen Tageszeitung »Cumhuriyet«: »Viele (Frauen) verlieren ihre Familien, müssen allein in Zelten leben und haben Sicherheitsprobleme.« So zog eine 25-jährige Frau nach dem Erdbeben wieder bei ihrem Ex-Partner ein, weil ihre Wohnung stark beschädigt war. Vielleicht dachte sie, dass sie bei dem Vater ihrer Kinder sicherer wäre als im Zelt mit Fremden. Doch weit gefehlt. Er schüttete kochendes Wasser auf sie, während sie schlief und sagte, sie solle froh sein, dass er sie nicht tötet.
Für manche bedeutet die menschenunwürdige Versorgung und fehlende Sicherheit im Erdbebengebiet offensichtlich akute Lebensgefahr. Zwar sind alle schwer betroffen, aber nicht gleichermaßen. Es könnte uns allen helfen, sich daran zu erinnern, dass Heilungsprozesse in Katastrophen wie diesen nicht voraussetzen, Unterschiede unsichtbar zu machen. Ganz im Gegenteil.
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