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Midd Beamer und dor Bäzoldn dorsch de Siddy

Leipzig ist die Stadt der wohl originellsten City-Touren

  • Stephan Brünjes
  • Lesedauer: 5 Min.
Ganz in der Nähe des Bahnhofs sind Leipziger Ereignisse auf einem Wimmelbild vereint.
Ganz in der Nähe des Bahnhofs sind Leipziger Ereignisse auf einem Wimmelbild vereint.

Der Sozialismus siecht! Das konnten in der DDR nur wir Sachsen sagen«, erklärt Frau Pätzold und schaut dabei halb neugierig, halb herausfordernd in ihre heutige Besuchergruppe. Die hat zu Beginn dieser City-Tour die sächsische Mundart noch nicht verlässlich drauf und daher erkennbar Fragezeichen in den Gesichtern. Frau Pätzold hilft gerne nach: »Stand doch überall: Der Sozialismus siegt. Aber ein hartes G können wir Sachsen nicht – also siechte der Sozialismus bei uns.« Auch modisch: Ausgelatschte, weiße Pumps, eierschalenfarbener Mantel und Baskenmütze auf dem Kopf – Frau Pätzold hat sich so verkleidet, wie vor der Wende die »Stadtbilderklärerinnen« aussahen. »De Bäzoldn« nennt sie sich als schauspielernde Stadtführerin, heißt bürgerlich Dr. Kirsti Dubeck und ist diplomierte Übersetzerin.

Reiseinfos
  • Allgemeine Infos: www.leipzig.travel 
  • Der zweistündige Rundgang »Midd dor Bäzoldn dorsch de Siddy« ist buchbar ­unter www.die-leipzigerin.de/aktuelles_10_baedz.html
  • Stadtstromer-Tour: www.stadtstromer.com/stadtrundgang/

    Als gebürtige Leipzigerin kennt sie die Marotten ihrer Mitmenschen, die eigenwillige Sachsen-Seele (»Erdrotation ist für uns schon Bewegung genug!«) und reichlich historische Schrulligkeiten, mit denen sie ihren »Leipzsch«-Rundgang »Midd dor Bäzoldn dorsch de Siddy« spickt. Immer dabei – wie vor der Wende: Der »Falls-Stoffbeutel«. »Den hatte jeder dabei – falls es was gibt im Laden.« De Bätzoldn hat ihren persönlichen Schnaps im Beutel. Diese Flachmänner verteilt sie gleich zum Start, mit ein paar Leipzig-Intros. »Warum die Stadt einst so viele Bahnhöfe hatte (jede Bahngesellschaft baute ihren eigenen), wo die einzige Porsche-Orgel der Welt erklingt (in der Nikolaikirche – gesponsert vom Autobauer) und woher der Ausdruck »Lotterwirtschaft« kommt (Hieronymus Lotter baute Leipzigs Rathaus-Arkaden – leider sehr schief).

    Highlights der Tour sind die Momente, wenn Frau Pätzold sich im Vorbeigehen mit Einheimischen kabbelt und so intensiv sächselt, dass es für ungeübte Ohren nicht mehr verständlich ist, aber umso lustiger klingt. Dennoch: der Rundgang ist keineswegs eine Ostalgie- und Zonen-Zoten-Parade. Die Teilnehmer erfahren, dass der mit einem Denkmal geehrte Oberbürgermeister Müller bis heute das wohl beliebteste Stadtoberhaupt ist, weil Müller die Stadtmauern beseitigte und den Leipzigern stattdessen eine Grünanlage bescherte. Mit lokalpatriotischer Begeisterung führt De Bäzoldn durch viele der insgesamt 37 Passagen, erklärt anschaulich deren Geschichte und lässt die zweistündige Tour hier ausklingen mit einem Sprachtest: »Alles hängenlassen, vor allem die Mundwinkel«, rät sie und teilt Fragekarten wie diese aus: »Kalter Hintern auf Sächsisch? Bofrost …«

    Nein, solche Kalauer bietet Mario Jung nicht. Und statt des Falls-Beutels hat der Erfinder der »Stadtstromer«-Rundgänge einen Beamer unterm Arm, der seine Leipzig-Touren einzigartig macht. Am Treffpunkt projiziert Jung eine Karte von Leipzig in den Grenzen von 1650 an die Wand und erklärt daran anschaulich, dass dies mehr oder weniger immer noch die Umrisse der heutigen Innenstadt sind. Die gebeamte Karte ist animiert, Mario Jung steuert darin Straßenzüge und Gebäude an und hebt sie optisch hervor. Eine prima Orientierung vorm Start und während der Tour, denn Jung zeigt auf der Karte immer wieder, wo die Gruppe gerade steht. Die Tourteilnehmer bekommen Kopfhörer, damit sie den Guide auch verstehen, wenn dieser ein paar Meter vorauseilt. Das tut Mario Jung oft – zu Beginn der Tour etwas gewöhnungsbedürftig. »Ich möchte möglichst viel von Leipzig zeigen«, erklärt er seine Art von Stadtführung, »und das kriege ich nicht hin, wenn die Gruppe sich an jedem Punkt immer erst sammelt und im Halbkreis aufstellt.« Gehen ist besser als stehen, lautet sein Motto.

    So stromern Jungs Gäste durch Leipzigs City, springen dabei von Epoche zu Epoche und erfahren Überraschendes. Etwa, dass die Straße »Am Brühl« bis zum Zweiten Weltkrieg eine Art Welthandelszentrum für Pelze war und zeitweise bis zu 700 Pelzhändler beherbergte. Der lebensgroße Eisbär auf einem Dach erinnert daran. Ebenso wie Frau Pätzold führt auch Mario Jung seine Gruppe durch viele Passagen und macht einige davon für ein paar Minuten zu »Kinosälen to go«: Mit ein paar Handgriffen beamt er hier Fotos und Filme an die Wände und erzählt, dass die großen Innenhöfe mancher Passagen zum Be- und Entladen von Kutschen dienten. Denn hier blockierten sie nicht die engen Gassen.

    Spannend sind auch Mario Jungs Filmdokumente aus der Wendezeit und den Leipziger Montagsdemos. »Warum eigentlich montags?«, fragt er seine Gäste. Keiner hat eine Idee, schon gar nicht die einleuchtende Lösung, die Jung nun präsentiert: »Es war bekannt, dass viele Stasi-Leute sich montags trafen«, sagt er, »also waren weniger Spitzel unterwegs als an anderen Tagen.« In einem gebeamten Video ist eine Montagsdemo zu sehen, verknüpft mit dem Appell zur Mäßigung der sogenannten »Leipziger 6«, einer Gruppe um den Gewandhaus-Dirigenten Kurt Masur, die verhindern wollte, dass die Proteste in Gewalt umschlagen. Die Ansprache Masurs wurde damals über das sogenannte »Stadtradio« verbreitet – über Lautsprecher, die es in vielen Straßen und auf Plätzen gab.

    Stadtstromer Mario Jung erinnert an viele dramatische Momente Leipziger Geschichte, etwa die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli, bei der nicht mal die Orgel gerettet werden konnte. Aber der Guide hat auch unfreiwillig komische Dokumente in seinem Beamer, wie das Foto von einer Hausfassade mit der Werbeaufschrift für DDR-Neonleuchten und dem Slogan »Narwa taghell«. In dem Gebäude, erzählt Mario Jung dazu, war es tatsächlich jahrzehntelang taghell. Aber nicht durch viele Neonleuchten, sondern weil seit Kriegsende sowohl ein Dach als auch Geschossdecken in dem Haus fehlten …

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