Auskömmliche Renten im Visier

Bei den anstehenden Tarifrunden im Einzelhandel fordert Verdi 2,50 Euro mehr Stundenlohn

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Auch in Großhandelslagern kann der Job stressig werden.
Auch in Großhandelslagern kann der Job stressig werden.

Verdi steht vor großen Aufgaben. Für die Dienstleistungsgewerkschaft beginnen im kommenden Monat die Tarifrunden im Handel. Der Startschuss fällt im Einzelhandel in Baden-Württemberg am 13. April. Im Einzel- und Versandhandel arbeiten laut Gewerkschaftsangaben mehr als 3,1 Millionen Beschäftigte, im Groß- und Außenhandel weitere zwei Millionen.

Die Lohnentwicklung in der Branche hielt in den vergangenen Jahren weder mit der Inflation noch mit den Gewinnentwicklungen der Unternehmen mit. Zwischen 2020 und 2022 mussten etwa die Tarifbeschäftigten im Handel in Nordrhein-Westfalen tabellenwirksame Reallohnverluste von fast sieben Prozent verzeichnen, während das Privatvermögen der reichsten vier Händler innerhalb eines Jahres von 90,5 auf 96,2 Milliarden Euro im Jahr 2022 anwuchs.

Für eine Verkäuferin im Einzelhandel lag der durchschnittliche Verdienst zur letzten Tariferhöhung im April 2022 bei 2745 Euro brutto im Monat, während die allgemeinen Verbraucherpreise im Februar dieses Jahres 8,7 Prozent, für Lebensmittel sogar 21,8 Prozent höher waren als im Vorjahresmonat.

Dementsprechend hoch fallen die Forderungen für die aktuellen Verhandlungen in den zehn Tarifbezirken aus. Nahezu gleichlautend fordern die Tarifkommissionen im Einzel- und Versandhandel ein Plus von 2,50 Euro die Stunde, was beim Eckgehalt rund 14 Prozent mehr bedeuten würde. Im Groß- und Außenhandel verlangt Verdi Lohnsteigerungen von 13 Prozent oder mindestens 400 Euro. Die Laufzeit der Tarifverträge soll zwölf Monate betragen.

Stefanie Nutzenberger, Leiterin des Fachbereichs Handel im Verdi-Bundesvorstand, begründet die Forderungen auch mit der Notwendigkeit einer steigenden Binnennachfrage, aber vor allem mit den niedrigen Rentenerwartungen der Beschäftigten im Einzelhandel. Diese erreichen nach Zahlen des Statistischen Bundesamts in rund 90 Prozent der Fälle nicht die Schwelle von 2844 Euro Bruttoverdienst über 40 Beschäftigungsjahre, die laut dem Bundesministerium für Arbeit für eine Nettorente von 1000 Euro monatlich nötig wäre.

Dies und die rückläufige Ausbildungsquote im Handel zeigten zudem, so Nutzenberger, »dass in Löhne investiert werden muss, damit sich Menschen dafür interessieren. Auch jüngere Menschen beschäftigen sich vermehrt mit ihren Rentenerwartungen.« Um die Attraktivität des Handels für Azubis zu erhöhen, wird zudem in vielen Tarifbezirken eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung um 250 Euro gefordert.

Neben der Lohnentwicklung stagniert auch die Tarifbindung der Branche. Waren 2011 noch 46 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt, lag die Quote zehn Jahre später bei rund 28 Prozent und damit deutlich unter dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt von 52 Prozent. Dafür macht Nutzenberger die nunmehr über 20 Jahre andauernde Weigerung der Arbeitgeberverbände verantwortlich, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu beantragen. Derzeit gebe es nur noch zwei allgemeinverbindliche Manteltarifverträge im Groß- und Außenhandel.

Die Arbeitgeberseite steht den Forderungen der Gewerkschaft nach Allgemeinverbindlichkeit und Inflationsausgleich über die Tariflöhne ablehnend gegenüber. So argumentierte etwa der Handelsverband Hessen mit Arbeitsplatzverlusten in kleinen Unternehmen gegen eine Allgemeinverbindlichkeit. Der bayrische Handelsverband attestierte Teilen der Gewerkschaften, »jeden Realitätssinn verloren« zu haben. Die Arbeitgeberseite will generell eher die Inflationsausgleichsprämien nutzen, die vom Bund steuer- und abgabenfrei gestellt wurden.

Zudem geht es längst nicht allen Händlern so gut wie den Lebensmittelkonzernen. Laut »Manager-Magazin« hat Deutschland während der Coronakrise rund 41 000 Einzelhändler verloren. Insbesondere die Umsätze des Textilsektors liegen laut Angaben des Handelsverbands Schuhe Textil Lederwaren noch unter denen des Vorkrisenjahrs 2019. An der Zukunft des innenstädtischen Einzelhandels könnten sich dementsprechend demnächst die argumentativen Auseinandersetzungen, auch um die Tarifentwicklung, entzünden.

Zum Erhalt der Arbeitsplätze der rund 17 000 Beschäftigten der seit Oktober erneut insolventen Kaufhauskette Galeria Karstadt Kaufhof gibt sich Nutzenberger kämpferisch: »Wir akzeptieren die Schließungsliste nicht und kämpfen mit den aktiven Belegschaften für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze.« Sie verweist auf die unter Einbezug der Beschäftigten erarbeiteten Zukunftspläne, hält ein »digital-stationäres Kaufhaus« mit reduziertem Warenangebot und digitalisierter Logistik für zukunftsfähig. »Ich bin von der Rückkehr in die Städte überzeugt«, so Nutzenberger. Über den Insolvenzplan der Kaufhauskette entscheiden am 27. März in Essen die Gläubiger. Den Plänen zufolge sollen im Unternehmen 52 Filialen und damit 5000 Stellen wegfallen.

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