Verkehr: Goldstandard nicht vor 2045

Richtlinien für Kiezblocks sollen Mogelpackungen der Verkehrsberuhigung entlarven

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.
Autofrei, grün, belebt: So könnte eine zum Kiezblock umgestaltete Kavalierstraße in Pankow aussehen.
Autofrei, grün, belebt: So könnte eine zum Kiezblock umgestaltete Kavalierstraße in Pankow aussehen.

»Die Kiezblocks sind in Berlin nun drei Jahre alt und wir haben stadtweit 65 Initiativen. Das ist der Hammer«, sagt Ragnhild Sørensen, Sprecherin des aus dem Fahrrad-Volksbegehren hervorgegangenen Verkehrswende-Vereins Changing Cities. »Aber wir müssen der planerischen Beliebigkeit etwas entgegensetzen. Wenn irgendwo eine Einbahnstraße ausgewiesen wird, ist das noch kein Kiezblock«, so Sørensen weiter.

Die Antwort von Changing Cities sind die Richtlinien zur Anlage von Kiezblocks, deren erste, seit Mitte Februar vorliegende Version unter Federführung des Stadt- und Raumplaners Hans Hagedorn das schöne Kürzel RAKi 23 bekommen hat. Fachgruppe Standards für die Mobilitätswende (FGSM) ist die Arbeitsgruppe getauft worden.

Dieser Abkürzungsfimmel ist eine überdeutliche Anspielung auf die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV). Etwa 3500 ehrenamtlich Mitarbeitende aus dem Bundesverkehrsministerium, Verwaltungen, Ingenieurbüros und ähnlichen Bereichen entwickeln in diesem privaten Verein die Standards für das Verkehrswesen in Deutschland. Ohne jegliche öffentliche Beteiligung werden diese Vorschläge zu deutschlandweit gültigen Regelwerken.

Die Autozentriertheit der Maßgaben der FGSV hat maßgeblich zur autogerechten Ausgestaltung der Städte in der Bundesrepublik beigetragen. Da die Vorgaben als sogenannter Stand der Technik gelten, sind die Straßenbau-Lastträger juristisch auf der sicheren Seite, wenn sie sie anwenden. Die Zivilgesellschaft hat nach wie vor praktisch keinen Zugang zu diesem Club. Am Dienstagabend hat Changing Cities zur Diskussion und Weiterentwicklung der Kiezblock-Richtlinien geladen. Mehrere Dutzend Interessierte sind in die Stadtwerkstatt an der Karl-Liebknecht-Straße gekommen.

Was sind denn nun Kiezblocks genau? Zunächst geht es vor allem darum, den motorisierten Durchgangsverkehr durch Wohnviertel zu unterbinden. Vier Planungsprinzipien nennt Experte Hans Hagedorn dafür. Es ginge darum, alle Wege im Kiezblock für den Umweltverbund aus Fuß-, Rad- und öffentlichem Nahverkehr zu optimieren, die Erreichbarkeit im Wirtschaftsverkehr zu gewährleisten, die Routen für den privaten Kfz-Verkehr einzugrenzen und eben den nicht lokalen Kfz-Verkehr zu unterbinden.

Doch für Changing Cities geht es um mehr als den Durchgangsverkehr. In den Kiezen gewonnene Flächen sollen beispielsweise der Klimaanpassung dienen, also durch die Pflanzung von Bäumen und die Entsiegelung auf die Gegebenheiten der Klimakrise reagieren. Auch die Lebensqualität soll durch weniger Lärm und mehr Platz für Stadtleben steigen.

Die Mobilität soll gesichert werden, wofür Parkraum für definierte Zwecke ausgewiesen wird. Zunächst müsse gewährleistet werden, dass Menschen mit Mobilitätsbehinderung ihre Fahrzeuge möglichst nah an ihren Zielen abstellen können. Es folgen in der Hierarchie Abstellflächen für Sharing-Fahrzeuge wie Fahrräder, Elektroroller oder Autos, schließlich die vor allem für Lieferverkehr und Handwerksbetriebe wichtigen Kurzzeit-Parkplätze sowie mit der niedrigsten Priorität das Anwohnerparken nach Gebührenordnung. Vorausgesetzt wird also die Parkraumbewirtschaftung.

Hagedorn nennt noch einen wichtigen Grund für Kiezblocks: »Die Veränderung des Infrastrukturangebots verändert auch die individuelle Verkehrsmittelwahl«, sagt er zunächst etwas technisch, um deutlich prägnanter nachzulegen: »Studien belegen, dass der Kfz-Verkehr einfach verpufft.« Im Kiezblock selber sinkt er um rund 30 Prozent, während er in den umliegenden Hauptstraßen kaum merklich um nur rund ein Prozent zunimmt. »Wenn das Kiezblock-Konzept stadtweit umgesetzt wird, kann der Kfz-Verkehr in Summe um 20 Prozent abnehmen«, erläutert er.

Verkehrswissenschaftliche Studien belegen seit Jahrzehnten diesen Effekt. Erst im Januar ist eine entsprechende Untersuchung zu den 46 zwischen Mai 2020 und Mai 2021 in London ausgewiesenen Kiezblocks erschienen. In den dort »Low Traffic Neighbourhoods« genannten sank der interne Autoverkehr demnach sogar um fast die Hälfte.

Drei Stufen für die Umsetzung von Kiezblocks hat die Fachgruppe definiert: den Mindeststandard, den Regelstandard und den Goldstandard. Für die Basisstufe ist vor allem die Unterbindung des Durchgangsverkehrs entscheidend. Das »mildeste wirksame Mittel« dafür sind laut Hagedorn die quer über Kreuzungen geführten Diagonalsperren aus Pollern in einem Abstand, der Autos gerade nicht mehr die Durchfahrt erlaubt. »Kürzere Wege für Kfz im Vergleich zu Einbahnstraßen, minimale Baukosten, flexibel veränderbar«, nennt der Experte stichwortartig die Vorteile. »Außerdem sind Poller ohne Kontrollaufwand wirksam gegen Regelbrecher.«

Für diesen Mindeststandard hält Changing Cities zwar eine Information der Anwohnenden für nötig, eine Beteiligung allerdings für entbehrlich. Denn bis auf den Entfall von Durchfahrtmöglichkeiten ändere sich nichts, so Hagedorn. »Was uns wahnsinnig aufhält: Wenn wir am einzelnen Parkplatz, am einzelnen Poller diskutieren, wie die klimapolitische Strategie von Berlin aussieht. Da wird mehr Strenge notwendig sein«, sagt er.

Bei optimalen Verwaltungsprozessen ließe sich so ein Kiezblock innerhalb von drei Monaten umsetzen, sagt der Experte und erntet ungläubiges Kichern aus dem Publikum. Ein Verwaltungskenner entgegnet: »Allein die Teileinziehung einer Straße dauert mindestens acht Monate.« Dieses Verfahren ist nötig, wenn etwa ein Straßenabschnitt zur Fußgängerzone werden soll. Das prominenteste Verfahren der letzten Zeit in Berlin bezog sich auf die Friedrichstraße. Beim Regelstandard für Kiezblocks werden zusätzlich in größerem Umfang Parkplätze umgewidmet. Ein Viertel der Fahrbahnränder sollen für bepflanzte Versickerungsflächen, erweiterte Fußgängerbereiche und anderes genutzt werden. Für den Goldstandard sollen Autos schließlich dauerhaft nur noch in Kiezparkhäusern abgestellt werden und auch das umliegende Hauptstraßennetz wird angefasst. Tempo 30, Vorrang für Bus, Bahn und Fahrrad und eine deutlich bessere Aufenthaltsqualität sind dort die Vorgaben. »Wenn die in den Kiezblocks es immer besser haben, sollen die Menschen an den Hauptstraßen auch etwas davon haben«, begründet das Hagedorn.

So optimistisch er bei den möglichen Realisierungszeiten für Kiezblocks nach Mindeststandard ist, rechnet er »nicht vor 2045« mit dem ersten nach Goldstandard. »Bevor nicht der Mindeststandard mehr oder minder flächendeckend umgesetzt ist, sollten wir da nicht herangehen«, sagt er.

Nun geht es erst mal um die Weiterentwicklung der Richtlinien, sie sollen zur Version 1.1 werden. Denn nicht nur Autofahrer haben Vorbehalte. Auch der Fahrgastverband IGEB kritisiert so manche Kiezblockplanung. »Die Einrichtung von Kiezblocks darf nicht dazu führen, dass Buslinien nicht mehr passieren können. Das gilt auch für geplante Linien oder den Ersatzverkehr mit Bussen, wenn Tram, Regional-, U- oder S-Bahn unterbrochen sind«, sagt er. Um solche Punkte geht es nun. Auch die Senatsmobilitätsverwaltung hat die baldige Erarbeitung von Leitlinien für Kiezblocks angekündigt. Das war im Herbst. Veröffentlicht sind sie bisher noch nicht.

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