»Die Angst, bei den Verlierern zu sein«

Feinnervig und genau beschreibt Antonia Baum das Dilemma von Frauen im Neoliberalismus

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Weg zur Work-Life-Balance wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steil und schwer.
Der Weg zur Work-Life-Balance wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steil und schwer.

Barfuß, mit lackierten Zehennägeln sitzt sie im Wartezimmer einer psychiatrischen Ambulanz, wo man anscheinend ohne Termin aufkreuzen kann. Im Gefühl, gleich durchzudrehen, ist sie Hals über Kopf von zu Hause aufgebrochen an diesem heißen Tag in Berlin. Die Tochter müsste von der Kita abgeholt werden, aber sie sitzt immer noch auf dem angeschraubten roten Plastikstuhl.

Der Roman von Antonia Baum geht unter die Haut, hält einen fest, gerade weil es die Autorin mit feinnervig genauen Beobachtungen bewenden lässt, ohne etwas auszudeuten. »Siegfried« – der Titel könnte eine Geschichte über männliche Gewalt, gar Missbrauch erwarten lassen. Dagegen steht der erste Satz: »Siegfried war mein Stiefvater, aber er war immer da, ich bin mit ihm aufgewachsen.« Gerade hat er einen Herzinfarkt erlitten, und es ist auch die Angst um diesen ihr nahestehenden Menschen, die der Ich-Erzählerin an diesem Morgen die letzte Kraft raubt. Am Abend zuvor hatte es eine schlimme Szene mit Alex gegeben, mit dem sie seit acht Jahren zusammen ist und ein Kind hat. Er ist etwas jünger als sie, Barkeeper und zieht oft nachts noch als Sprayer durch die Straßen. Er kifft und trinkt, aber ist lieb zu ihr und der Tochter. Nur, dass er eben kaum Geld nach Hause bringt. Er träumt davon, einen Film zu drehen. Und sie sieht sich als Schriftstellerin. An diesem Abend hat sie ihm gestanden, dass sie mit ihrem Lektor geschlafen hat …

Nur wenige Sätze braucht Antonia Baum, um die Atmosphäre in dessen Wohnung spüren zu lassen, wo in einem »massiven antiken Leuchter« Kerzen brannten und »Servietten in Ringen mit Perlmuttverzierung« steckten, wo im Gegensatz zu ihrem Zuhause alles geordnet und friedlich war. Seine Eltern waren reich gewesen – wie die der Ich-Erzählerin allerdings auch. Aber sie hat sich abgenabelt, weil sie ihr Leben anders gestalten wollte. Nun merkt sie, wie anstrengend es ist, schreiben zu wollen und kein Geld zu haben. Von dem geplanten Roman hat sie noch nicht mal ein paar Seiten, doch der Dispokredit ist aufgebraucht. Zudem wohnen sie in einer Gegend, die sie sich eigentlich nicht leisten können. »Die Angst, bei den Verlierern zu sein« – in dieser Formulierung steckt das ganze menschliche Dilemma im Neoliberalismus, das sich für Frauen noch um ein Vielfaches verstärkt. Es ist ein Dauerdruck, auch für Männer mit ständigen Anstrengungen verbunden, als ob sie auf einer abwärts laufenden Rolltreppe nach oben hasten wollten. Für Frauen indes kommt hinzu, wie schwer das Gebot zur Selbstverwirklichung zu erfüllen ist und wie das Versprechen von Emanzipation in einer immer noch patriarchalischen Gesellschaft permanent unterlaufen wird.

»Siegfried« ist tatsächlich »ein bitterer Deutschlandroman«, wie auf dem Buchumschlag vermerkt. Denn die Irritation der Ich-Erzählerin hat tiefe Wurzeln: Im Trauma des Krieges, das in der BRD eher zum Selbstmitleid führte als zur Erkenntnis von Schuld, im Fortleben von Nazi-Ideologie unter der weichen Decke des Wirtschaftswunders. »Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl« – Großmutter Hilde gebraucht diese Formulierung nicht, versucht aber, ihre kleine Enkelin entsprechend zu erziehen. Sowieso wäre sie ihr als Junge lieber gewesen. »Alte Nazisau«, so hat der von ihr vergötterte Siegfried sie mal gegenüber seiner Frau genannt. Doch hatte er von ihr das materielle und kulturelle Startkapital geerbt, um seinerseits reich zu werden und sein Leben auf unablässige Arbeit auszurichten.

Eine putzsüchtige Hausfrau, die aussehen will wie die Models in den bunten Zeitschriften und die sich irgendwann doch auf Kosten des Kindes befreit, und ein Vater, der sich in unablässiger Arbeit verwirklicht. Die Tochter wollte eine »Entscheidung für sich selbst« und steckt doch immer noch in alten Mustern. So frappierend detailgenau Antonia Baum erzählt – auch Alex’ ostdeutsche Eltern kommen ins Spiel –, wird man unwillkürlich eigene Wurzeln und Ziele bedenken. Es soll uns scheinen, als ob wir alle Möglichkeiten der Wahl hätten und uns »nur noch« anzustrengen brauchten. Was uns aber ständig in Zweifel setzt, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben und unsere Bemühungen ausreichend gewesen sind.

Wobei der Roman in einem intellektuell-kreativen Milieu handelt, das näher am Prekären ist, als zugegeben werden kann. Wie soll jemand schreiben, umgeben von Geldsorgen und häuslicher Unordnung, ohne innere Ruhe, weil ständig mit schlechtem Gewissen dem Lebenspartner und dem Kind gegenüber?

Aber Johnny – ihr Name ist absichtsvoll geschlechtsneutral – wird später als junge Frau auch mal an die Erfahrungen mit ihrer Mutter denken, die nun vor allem fürchtet, Siegfried zu verlieren und Alex auch. Doch erst einmal fällt der Kinderstuhl um – schon Milchflecken und Krümel auf dem Boden können die Eltern zur Verzweiflung treiben. Ein Wecksignal für diejenigen, die vor allem mit sich selbst zu tun haben? An dem Abend, als sie stritten, haben sie die Kleine vor dem Fernseher einschlafen lassen.

Denken Sie an ihr Kind, hätte die freundliche Frau in der Arztpraxis womöglich zur Patientin gesagt, wenn sie miteinander ins Gespräch gekommen wären. Und nicht gemerkt, was für eine Taktlosigkeit das war. Jahrhundertelang wurde von Frauen gefordert, eigene Lebensansprüche zurückzustellen, besser noch, sie gar nicht erst zu haben. Die Einsicht in die Zartheit von Kinderseelen ist eine Errungenschaft von heute, die indes den Druck auf die Frauen noch erhöht.

Antonia Baum: Siegfried. Roman. Claassen Verlag, 254 S., geb., 24 €.

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