Buchenwald: Dokumentation des Verschwindens

Christian Rothe hat eindrucksvolle Aufnahmen am Konzentrationslager Buchenwald gemacht

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 7 Min.
Figurengruppe des Mahnmals auf dem Gelände des früheren KZ Buchenwald
Figurengruppe des Mahnmals auf dem Gelände des früheren KZ Buchenwald

Das Foto mit dem halb-umgefallenen Baum ist eines, das für Christian Rothe viel mehr ist als ein Bild. »Das ist für mich bezeichnend dafür, wie man Geschichte unter den Teppich kehrt«, sagt er.

Unter dem Baum ist eine Art Bodenplatte sichtbar, auf der die Wurzeln des Baums irgendwann keinen ausreichenden Halt mehr gefunden haben, weshalb die große Pflanze zur Seite gekippt ist. Diese Bodenplatte ist auch ein Teil dessen, was die Nationalsozialisten auf dem Ettersberg bei Weimar ab 1937 schufen: das Konzentrationslager Buchenwald. Etwa 56 000 Menschen sind dort bis zur Befreiung des Lagers 1945 gestorben. Insgesamt dort etwa 250 000 Menschen aus ganz Europa unter den schrecklichsten Bedingungen inhaftiert.

Jahrelang ist der ehemalige Wahl-Weimarer Rothe, der inzwischen in Leipzig lebt, durch die Wälder gestreift, die den Kern des Konzentrationslagers umgaben – die Flächen auf dem Ettersberg, in unmittelbarer Nähe jener Stadt, die sich so gerne mit den deutschen Dichterfürsten Goethe und Schiller schmückt, aber gleichzeitig ihre Nähe zum KZ Buchenwald nicht zu vertuschen versucht. Man muss vom »Kern des Konzentrationslagers« sprechen, weil die Fotos, die der junge Mann gemacht hat, ein weiterer Beleg dafür sind, dass die Anlage viel größer war als jener Bereich, der von Stacheldraht umgeben war und heute als »Lagergelände« gilt. Auch jenseits dieses Areals standen Anlagen und Bauten, ohne die das Konzentrationslager kaum hätte existieren können. Bis heute finden sich dort deren Überreste.

Nicht nur diese Zeugnisse hat Rothe fotografisch dokumentiert. Aufgenommen mit einer analogen Großformatkamera, die tiefenscharfe Bilder liefert. Das Fotografieren ist für ihn zu einem Akt der Auseinandersetzung geworden und hat ihn zum stummen Zeugen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland gemacht. Vielleicht heißt die Ausstellung, in der diese Bilder zu sehen sind, auch deshalb so: »Stille Zeugen«. Vor allem hat er auch festgehalten, wie die Natur fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diese Reste überwuchert, sich jene Flächen zurückholt, die Menschen in den 1930er und 1940er Jahren nutzten, um schlimmste Verbrechen an anderen Menschen zu begehen – und wie die Natur mit den menschlichen Hinterlassenschaften auf diesen Flächen bis heute ringt. Davon zeugt der halb umgefallene Baum und die darunter befindliche Bodenplatte.

Das Besondere am Einsatz der analogen Großformatkamera sind die mit Bedacht ausgewählten Motive. Anders als in der Welt der digitalen Fotografien, sagt Rothe, überlege man sich bei deren Einsatz sehr, sehr genau, was man eigentlich fotografieren wolle und unter welchen Umständen. In der Regel, sagt er, habe er pro Fototag nicht mehr als acht, vielleicht zehn Bilder gemacht. Die aber ganz überlegt. Wenn beispielsweise der Wind durch die Blätter der Bäume gefahren sei, er aber keine Bewegung auf den Bildern gewollt habe, habe er so lange still im Wald gewartet, bis der Wind nachgelassen habe. »Dann stehst Du da im Wald, hörst das Schlagen des Glockenturms und wartest auf den richtigen Moment.«

Die Schwarz-Weiß-Motive von Rothe mit ihrem scharfen Kontrast vermitteln genau das: eindringliche Momente, die den Gedanken des Betrachters viel Raum zum Nachdenken geben. Über das, was auf dem Ettersberg war. Über das, was dort heute ist. Über die Jahrzehnte dazwischen, in denen es allzu oft nicht nur in Weimar dazu gehört hat, dass Deutsche behauptet haben, sie hätten nicht gewusst, welches Unrecht, welches Grauen sich in ihrer unmittelbaren Umgebung abgespielt hat.

Besonders eindringlich sind diese Momente auch dort, wo im Zuge der Ausstellung die Fotos um eine Toninstallation des Soundkünstlers Ludwig Berger ergänzt worden sind. Zu hören ist, wie im Wald auf dem Ettersberg der Schnee fällt, der Wind pfeift, Vögel zwitschern – und der Blick des Besuchers gleichzeitig auf winterliche Bäume und ebenso eisige wie karge Felder fällt.

Begonnen hat das Projekt, aus dem die Bilder und die Ausstellung hervorgegangen sind, nach Angaben von Rothe im Jahr 2017. Eher zufällig. Eigentlich wollte der studierte Kommunikationsdesigner auf dem Ettersberg nämlich Pflanzen fotografieren, die vom Frost überzogen worden waren. Der Ettersberg eignet sich gut für solche Aufnahmen, weil es dort oben kälter und windiger ist als im tiefer gelegenen Weimar, wo Rothe damals lebte. »Und dann bin ich über die Überreste von irgendwas gestolpert«, sagt er. Was das für Überreste waren, sei ihm völlig unklar gewesen, was er – auch selbstkritisch – für bezeichnend dafür hält, wie in Deutschland mit der NS-Vergangenheit umgegangen wird. Viele Spuren verwischen und Erinnerungen verblassen, trotz der mehr oder weniger offiziellen deutschen Erinnerungskultur an die Jahre zwischen 1933 und 1945, die nicht nur in den Schulen als die dunkelsten Jahre in der deutschen Geschichte beschrieben werden.

Obwohl er 2017 schon etwa zehn Jahre lang in Weimar gelebt hatte, wusste Rothe nach eigenem Bekunden damals nicht allzu viel über das Konzentrationslager Buchenwald. Darüber, wie weitläufig die Anlage war. Darüber, wie eng das Sterben im Lager mit dem Leben und den Menschen in Weimar verbunden war. »Aber so habe ich angefangen: Ich habe fast nichts gewusst«, sagt Rothe.

Aber zufällig sind die Bilder und das Projekt keineswegs entstanden. Denn Rothe gehörte zu denen, die einer Aussage von Björn Höcke viel Bedeutung beigemessen haben. Der thüringische AfD-Fraktionsvorsitzende hatte Anfang 2017 das Holocaust-Mahnmal in Berlin in seiner heftig kritisierten Dresdner Rede als »Denkmal der Schande« bezeichnet und eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« gefordert. Für Rothe ist diese Aussagen ein Ausdruck dafür, wie wahrnehmbar die Gesellschaft in Deutschland und insbesondere der Osten des Landes nach der Ankunft von vielen Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016 nach rechts gerückt ist.

Seine Fotos vom Ettersberg, von den Überresten des Konzentrationslagers Buchenwald und der zurückkehrenden Vegetation, versteht er als eine Reaktion auf diesen Rechtsruck. »Ich bin eigentlich kein besonders politischer Mensch«, sagt Rothe. »Aber ich habe mich damals trotzdem als jemanden gesehen, der sich zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung in Beziehung bringen muss.«

Zwischen 2018 und 2020 hat er deshalb regelmäßig auf dem Ettersberg fotografiert. Büsche, Bäume, einfache Mauerreste, komplexe Ruinen. Deren bloße Existenz macht Rothe bis heute ein Stück weit fassungslos. Wie, fragt er sich, habe man nach dem Krieg die allermeisten Gebäude auf dem erweiterten Gelände des Konzentrationslagers abreißen, aber so viele Überreste zurücklassen können. »Das ist so ein bisschen wie: Wir wischen das mal grob weg – ohne dass es wirklich weg ist«, sagt Rothe. Letztlich ist das natürlich für ihn auch ein Ausweis dafür, dass Geschichte nicht vergeht.

Aus Sicht des Direktors der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, hat Rothe damit jenen Zugang zur Geschichte gewählt, den Fotografien regelmäßig nutzen. »Sie vermitteln – so paradox das auch klingen mag – sowohl Vergänglichkeit als auch greifbare Nähe und zeigen: Die Geschichte der NS-Verbrechen und ihrer Opfer geht uns auch heute etwas an.«

Ein zusätzlicher Reiz geht von den Fotos freilich dadurch aus, dass sie in einer Zeit entstanden sind, in der sich die Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen fundamental verändert, weil deren letzten Zeitzeugen in diesen Jahren ihr Lebensende erreichen – während die steinernen Spuren am Ettersberg mehr und mehr überwuchert werden. Langfristig wird ganz sicher die Natur über den Menschen siegen, auch wenn der halb umgefallene Baum inzwischen auch verschwunden sein mag. Irgendwann wird auf der Bodenplatte ein neuer Baum wachsen. »Es verschwindet doppelt«, sagt Rothe über die Zeitzeugen und die steinernen Überreste. Auch seine Fotos seien deshalb eine bleibende Mahnung, nie wieder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen zu lassen.

Die Ausstellung »Stille Zeugen« ist noch bis zum 7. Mai in der Kunsthalle in Erfurt zu sehen. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm, zu dem unter anderem ein Waldspaziergang mit Christian Rothe in der Gedenkstätte Buchenwald am 1. April gehört.

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