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Kein Mensch, sondern Ressource ohne Wahlrecht
Um in Deutschland wählen zu dürfen, gab Sibel Schick ihre türkische Staatsbürgerschaft auf. Nun ist sie schon wieder nicht stimmberechtigt
Es wird gesagt, dass das Wahlrecht eine der wichtigsten Errungenschaften der Demokratie sei. Als ich das erste Mal an Wahlen teilnehme, bin ich in Deutschland und gebe meine Stimme für die damaligen Wahlen in der Türkei ab. Im Generalkonsulat in Köln werfe ich meinen Stimmzettel in die Urne. Ich lebe nicht in der Türkei, sondern in Deutschland, darf an den türkischen Wahlen teilnehmen, an den deutschen aber nicht.
Ich laufe in eine Kabine, mache den Vorhang zu. Ich fühle mich dennoch beobachtet, will den Zettel noch mit meiner Hand abdecken, damit niemand sieht, wofür ich meine Stimme abgebe. Kann ich aber nicht: der Zettel ist zu lang, meine Hand zu kurz. Ich hätte mir ein Youtube-Tutorial angucken sollen, bevor ich in das Konsulat gefahren bin. Gott, ich hoffe, es ist selbsterklärend. Am Ende ist es das.
Ich bin nicht nur eine Spätzünderin, was das Wählen angeht, sondern auch gleichzeitig Wahlbeobachterin. Ich lebe in Deutschland und nehme an den türkischen Wahlen teil, ohne zu wissen, ob ich jemals wieder dort leben werde – oder ob ich es wollen würde. Dass ich in Deutschland bleibe, ist mir klar, denn irgendwo anders hinzugehen kommt nicht infrage. Nicht weil ich Deutschland toll finde. Ich habe schlicht keine andere Wahl mit meiner türkischen Staatsbürgerschaft. Mein Recht auf Mobilität ist ziemlich begrenzt und England, das mir als Ziel lieber wäre, kann ich mir nicht leisten.
Ich will irgendwie beides: sowohl in Deutschland wählen als auch in der Türkei. Denn ich bin sowohl hier als auch dort. Die ersten 23 Jahre – über die Hälfte meines Lebens – verbrachte ich in der Türkei. Ich kann und will mich nicht vollständig davon trennen. Warum muss ich überhaupt wissen, was ich mit dem Rest meines Lebens vorhabe, um an Wahlen teilnehmen zu dürfen? Wahlen, die mein Hier und Jetzt gestalten. Warum soll ich das Recht auf Mitbestimmung in der Türkei aufgeben, wenn ich doch von dort komme? Ich verstehe das nicht.
Ich will irgendwie beides: Ich lebe in Deutschland, bezahle hier Steuern, von denen auch rechte und rechtsextreme Parteien finanziert werden. Ich kann weniger gegen solche Strömungen in Deutschland unternehmen, wenn ich meine Stimme nicht denen geben kann, die sich gegen sie stellen. Warum muss ich den hürdenreichen und entmenschlichenden Prozess der Einbürgerung durchmachen, wenn ich eh dauerhaft in Deutschland lebe, wenn mein Lebensmittelpunkt hier ist? Entmenschlichend, weil ich als Mensch viel mehr bin als die Summe auf meinem Bankkonto, meine beruflichen Qualifikationen und meine Sprachkenntnisse. Ich verstehe das nicht.
Im Grunde will ich es gar nicht verstehen – es gibt nichts, das zu verstehen wäre. Du kannst fragen, so oft du willst. Die Antwort lautet immer: Ist halt so. Und: Ist woanders doch genauso.
Ein Unmut steigt in mir auf. Ich twittere und twittere. Ich twittere schimpfend, manche nennen es »Publikumsbeleidigung«, ich finde es gut, dass sie sich beleidigt fühlen. Ich schimpfe mit der politischen Ordnung, die mich nicht als mündige Bürgerin akzeptiert, sondern nur von mir profitieren will. Ich bin kein Mensch, sondern eine Ressource. Ressourcen haben kein Wahlrecht.
Irgendwann traue ich mich doch und lasse mich über eine Einbürgerung beraten. Lange, ganz lange danach bekomme ich endlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich muss meine alte türkische Staatsbürgerschaft aufgeben. Dazu fahre ich ins türkische Konsulat in Berlin. Eine Beamtin mit blondierten Haaren und Fingernägeln aus Plastik bedient mich, sie sieht aus wie eine gewöhnliche Wählerin der CHP, der Republikanischen Volkspartei in der Türkei. Ich frage mich, ob es mir etwas ausmacht, ihr gleich meinen Personalausweis zu reichen und ihn dann nie wieder zurückzubekommen. Sie nimmt ihn mir aus der Hand, durchbohrt ihn mit einem Locher und legt ihn weg. Auf einer emotionalen Ebene macht es mir nichts aus, aber das türkische Wahlrecht zu verlieren, das finde ich definitiv nicht in Ordnung.
Ich fliege in die Türkei, bleibe eine Weile oder vielleicht auch länger. Wer weiß das schon, ich kann machen, was ich will. Bald, am 14. Mai sind Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Wichtige Wahlen, an die man sich vermutlich lange erinnern wird und über die man lange reden wird. Und ich bin schon wieder nicht stimmberechtigt.
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