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Paul Valéry: Robinson bekommt Gesellschaft
Nach 80 Jahren erstmals veröffentlicht: Seine Vorlesungen zur Poetik werfen ein völlig neues Licht auf den Schriftsteller Paul Valéry
Wer die Hochplateaus und Schluchten seiner Notizen (am besten in der 29-bändigen Faksimileausgabe der »Cahiers«) durchwandert, stößt bei dem Dichter Paul Valéry auf Figuren eines isolierten, aber selbstbewussten Ichs: »Ego«, »Ego scriptor«, »Gladiator«, »der nachdenkliche Robinson«. Und selbst wer von diesem Autor nur den kleinen, spröden Roman »Monsieur Teste« oder seine Version des »Faust« kennt, wird ihn für einen lebenslangen Vertreter einer abgeschotteten, gloriosen Ich-Welt halten. Seit wenigen Monaten liegen Vorlesungstexte vor, die diese begründete Vorstellung erschüttern.
Valéry selbst scheint erschüttert gewesen zu sein. Er habe nicht gewusst, wohin sein Denken treibt. Schon seine erste Vorlesung zur Dichtung, 1937, führt eine für ihn ungewöhnliche Perspektive ein. Er kündigt, unter dem Eindruck seiner Lektüre von Karl Marx, eine »ökonomische Poetik« an. Und in einer seiner letzten Vorlesungen, im Januar 1945, seinem Todesjahr, kommt er auf den »nachdenklichen Robinson« zurück und erklärt selbstkritisch, dieses Bild könnte »absolut falsch« sein.
»Auf der rein materiellen Ebene kann man sich durchaus einen isolierten Wilden vorstellen, dem es nach und nach gelingt, sein Leben zu organisieren, aber ich halte es für äußerst schwierig, sich ein einsames Individuum zu denken, dem es gelänge, aus sich selbst heraus eine intellektuelle Existenz aufzubauen.« Der Hauptgrund dafür, dass just der Intellektuelle, der einsam an seinem Schreibtisch (auf seiner Insel) sitzt, von der Gesellschaft abhängig ist, ist das Material seines Denkens – die Sprache. Sprache, das wussten schon Wilhelm von Humboldt und Ferdinand de Saussure, ist ein »sozialer Fakt«.
Von dieser Einsicht aus stößt Valéry zu politischen Erkenntnissen vor. Doch zunächst ein Blick auf die Umstände seiner Vorlesungen: Valéry war zwar ein weltberühmter Dichter, doch das allein reichte nicht zum Überleben. Er arbeitete bei Presseagenturen und in der Wirtschaft. Nach einigem Hickhack – den Akademikern war er nicht akademisch genug – wurde er 1937, er ging schon auf die 70 zu, auf eine Professur am Collège de France berufen. Im Hörsaal, in dem er seine Gedanken ausformulierte, saß die intellektuelle Elite des Landes, darunter Roland Barthes, Maurice Blanchot, André Gide und Jean Paulhan. Dann kamen die Deutschen.
Die Vorlesungen wurden im März 1941 unterbrochen, durften aber einige Monate später mit Sondergenehmigung wiederaufgenommen werden. Der Dichter hielt, was dem Vichy-Regime missfiel, bei der Beerdigung des Philosophen Henri Bergson, der Jude war, eine bewegende Totenrede. Zur Strafe entzog man Valéry einen Verwaltungsposten in Nizza, also in der noch unbesetzten Zone, aber die viel beachtete Pariser Lehre ging weiter.
Nach dem Abzug der Deutschen begann er seine Vorlesung am 15. Dezember 1944 mit einer Anekdote: Ein deutscher Offizier habe ihn vor dem Collège gefragt, ob das ein Museum sei. Nein, habe er geantwortet, eine Schule. Was werde denn da gelehrt? »›Mein Herr‹, sagte ich ihm, ›es dauerte zu lang, wollte ich das erklären. Nur soviel: Es handelt sich um eine Institution, in welcher die Rede frei ist. Sie wurde sogar ausdrücklich zu diesem Zweck gegründet – und zwar von einem König.‹ Er schien erstaunt, grüßte und rückte ab.«
Freie Rede – eine stolze Behauptung, doch im Zeichen Voltaires, dessen 250. Geburtstag damals gefeiert wurde, musste auch sie infrage gestellt werden. Denn der intellektuelle Robinson ist niemals so frei, wie er selbst es sich eingebildet hat. Er kann nur »mit den Werkzeugen, den Mitteln« arbeiten, die »ihm von anderen zur Verfügung gestellt werden. Unter ihnen ist die Sprache ganz klar das entscheidende, das kapitale, das hauptsächliche.« Selbst das Wort »Ich« ergibt sich nur aus dem des »Andern«, des »Du« oder »Sie«.
Die Sprache ist etwas Konservatives. Soll sie verständlich bleiben, kann sie sich nicht alle sechs Wochen ändern. Nur als fixierende (wir Marxisten sagen: reproduzierende) Macht erfüllt sie eine gesellschaftliche »Funktion«. Eine Funktion lässt an eine Maschine denken, die aus voraussehbarem Input voraussehbaren Output produziert. Das gilt für eine mechanische Maschine ebenso wie für die sehr komplexe der Gesellschaft, die sich Valéry als ein Relais-System von Gesten und Zeichen vorstellt.
»Wer ›Gesellschaft‹ sagt, sagt ›Funktionieren‹. Wer ›Gesellschaft‹ und ›Funktionieren‹ sagt, sagt ›Sprache‹.« Vor allem sie sorgt für Fortdauer, Einordnung, Unterordnung. Damit ist allerdings das Problem der Ideologie berührt. Wir kennen, erklärt Valéry, der damit auch auf das gerade Überstandene anspielt, den Menschen, der »im Namen des Gesetzes« spricht. Hinter ihm »baut sich mit aller möglichen Macht des Staates eine gigantische Fiktion, ein gigantischer Mythos auf«. Darauf beruft sich, wenn auch meist indirekt, eine »Autorität«. »Die wahre Autorität ist derjenige, der mit einem Minimum an sprachlichem Einsatz ein Maximum an Unterwerfung erzielt.« Und so gelangt Valéry zu einer Sprachtheorie, die enger mit Louis Althusser, Michel Foucault oder Nicos Poulantzas verwandt ist als mit Descartes, auf den er sich stets bezogen hatte.
Seine Vorlesungen sind nicht das beste, aber das interessanteste Buch von Valéry. Dabei hat er es gar nicht geschrieben, sondern es wurde von seinem Herausgeber, William Marx, aus Mitschriften, Entwürfen, gar aus Erinnerungen von Zuhörern zusammengestellt und übrigens glänzend kommentiert. Dass ein Intellektueller noch kurz vor seinem Tod schöpferisch ist, hat man schon öfter (etwa bei Ernst Bloch) gesehen, aber dass er auf den letzten Metern einen ganz neuen, faszinierenden Gedankenraum betritt, kommt doch selten vor. Paul Valéry ist eindeutig zu früh gestorben.
Paul Valéry: Cours de poétique. Hrsg. von William Marx. Gallimard, zwei Bände, 688 und 752 S., br., 28 und 29 €.
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