Angeben mit Staatsgeheimnissen

US-Behörden machen einen 21-jährigen Soldaten für die jüngsten Enthüllungen von Militärgeheimnissen verantwortlich

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Quelle der geleakten US-Militärdokumente steht offenbar fest. Am Donnerstag nahm das FBI in North Dighton, Massachusetts, den 21-jährigen Jack T. fest, wie der Fernsehsender »CNN« berichtet. Der Soldat der Nationalgarde soll die Dokumente entwendet haben – offenbar aus Geltungssucht, aber möglicherweise auch aus politischen Motiven. T. sei an der an der Otis Air National Guard Base in Mashpee, Massachusetts, mit der Wartung von Computersystemen beauftragt gewesen und stamme aus einer Militärfamilie.

Laut der »Washington Post« soll sich die Quelle der Dokumente im Internet in einem privaten Chat-Kanal auf der Plattform Discord als »OG« ausgegeben haben. In der Gruppe mit etwas über 20 Nutzern – hauptsächlich Männern – sei es vor allem um die gemeinsame Begeisterung für Waffen, Militärausrüstung und Gott gegangen. »OG« habe dort Militärgeheimnisse präsentiert und mit Voraussagen über das Geschehen in der Welt kombiniert. Auch äußerte »OG« verschiedene Verschwörungstheorien, die nicht durch das Material unterlegt waren.

Sollte es sich bei Jack T. tatsächlich um »OG« handeln, wovon inzwischen allgemein ausgegangen wird, blieben seine Aktivitäten über Monate unentdeckt. Erst als andere Nutzer des Discord-Servers die Materialien weitergaben und diese an verschiedenen Stellen im Internet auftauchten, wurde die Sicherheitslücke offensichtlich. Dabei wurde das Material möglicherweise auch manipuliert und mit Fälschungen vermischt – nicht alle Dokumente, die ihren Weg ins Internet fanden, sind zweifelsfrei echt. Laut Al Jazeera gab das Pentagon an, einige der Dokumente seien nachträglich verändert worden.

Jack T. soll »Anführer« des Chat-Kanals gewesen sein und ungehalten reagiert haben, wenn Mitglieder sich nicht ausreichend mit dem Material beschäftigten. Indem er die Militärgeheimnisse mit seinen Internet-Bekanntschaften teilte, wollte er offenbar seinen Status in der Gruppe festigen. Doch der Server hatte auch einen klaren politischen Rechtsdrall. Bereits sein Name, »Thug Shaker Central«, hatte laut der »Washington Post« rassistische Konnotationen. Dementsprechend hätten die Mitglieder dort regelmäßig rassistische Inhalte geteilt. Der Zeitung liegt auch ein Video von »OG« – also mutmaßlich Jack T. – vor, in dem er sich rassistisch und antisemitisch äußert.

Zu den wichtigsten Schlussfolgerungen, die aus dem geleakten Material gezogen werden könnten, zählt laut »Guardian« vor allem, dass im Ukraine-Krieg keine Wende in Sicht ist. Im Pentagon erhoffe man sich offensichtlich, wenn überhaupt, nur bescheidene Geländegewinne von der bevorstehenden Frühjahrsoffensive. Es fehle an Militärpersonal, die Waffenlieferungen stockten. Insbesondere die Luftverteidigung bereite den Militärplanern Kopfschmerzen. Eine militärische Entscheidung des Konflikts ist offenbar nicht zu erwarten – keine Seite hat realistische Aussichten auf einen Sieg und das Erreichen ihrer Maximalziele.

Die ukrainische Führung setzte sich offenbar trotzdem dafür ein, Ziele innerhalb Russlands mit Drohnen anzugreifen. In Washington blickt man wohl vor allem mit Sorge auf eine mögliche chinesische Reaktion auf solche Angriffe: Sie könnten Peking als Anlass dienen, um die Nato als Aggressor dazustellen und Russland im Krieg materiell zu unterstützen.

Insgesamt bestätigen die Dokumente überwiegend das Bild eines festgefahrenen Konflikts. Auch zeigen sie, dass die USA alle Hände voll zu tun haben, die westliche Koalition zusammenzuhalten und neutrale Staaten von einer Unterstützung Russlands abzubringen. Unter anderem ist von ägyptischen Plänen für Raketenlieferungen an Russland die Rede; die Regierung von Südkorea soll sich besorgt darüber geäußert haben, dass an die USA gelieferte Munition im Ukraine-Krieg landen könnte, was gegen internationale Verträge verstoße. Auch in Israel gibt es offenbar Vorbehalte gegen Waffenlieferungen.

Die Enthüllungen bestätigen, dass die USA auch routinemäßig Verbündete ausspähen, was ein diplomatisches Nachspiel haben könnte. Wie Al Jazeera berichtet, soll auch UN-Generalsekretär António Guterres von US-Diensten ausgespäht worden sein. In Washington sei man der Meinung gewesen, Guterres sei Russland bei den Verhandlungen über Getreideexporte aus der Ukraine, die er zusammen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan geleitet hatte, zu weit entgegengekommen.

Der Eindruck, dass sich die Nato und ihre Verbündeten nicht auf eine kohärente, gemeinsame Strategie einigen können, den auch die jüngsten Aussagen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bestätigen, wird durch das Material bestärkt. Des Weiteren zeigen die Dokumente, dass hunderte westliche Spezialkräfte in der Ukraine stationiert sind, worüber schon lange spekuliert wird. Andere Dokumente suggerieren laut der »New York Times«, dass auch innerhalb des russischen Regierungsapparats über den Krieg gestritten werde. Zwischen dem Geheimdienst FSB und dem Verteidigungsministerium gibt es offenbar Spannungen, weil so viele russische Soldaten sterben oder verletzt werden. Auch soll Präsident Putin einen Streit zwischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und dem Chef der Söldnertruppe Wagner um die Verteilung von Munition beigelegt haben.

Der Fall Jack T. hat in den USA eine neue Debatte über die Sicherheit von Militärgeheimnissen entfacht. Kritische Stimmen äußerten sich überrascht, dass ein 21-jähriger Soldat Zugang zu solch sensitivem Material erhalten habe. Senator Jack Reed aus Rhode Island bemängelte »systematische Probleme« bei der Vergabe von Sicherheitszugängen für Militärpersonal. Doch das Aufgabenprofil des Soldaten war laut der Zeitschrift »Politico« nicht ungewöhnlich für in der Militärverwaltung Tätige, über eine Million Personen habe Zugang zu Militärgeheimnissen auf verschiedenen Ebenen.

Kritische Stimmen warnten davor, den Vorfall überzubewerten. »Die Journalisten, die über den Fall berichten, wissen wahrscheinlich, dass viel zu viele Dokumente als geheim klassifiziert werden. Sie wissen auch fast sicher, dass jedes Mal, wenn es zu einem größeren Verlust kommt, die Regierung im Fernsehen behauptet, die nationale Sicherheit sei irreparabel beschädigt«, so Trevor Timm, Vorsitzender der Freedom of the Press Foundation, die sich für Pressefreiheit in den USA einsetzt. Bereits bei der Aufdeckung der Pentagon-Papiere während des Vietnamkriegs 1971 habe es solche Übertreibungen gegeben.

Kritik wurde auch an der Rolle der Presse in dem Fall laut. Der Journalist Amien Essif bemängelte auf Deutsche Welle, die »New York Times« habe Jack T. an seinem Wohnort aufgesucht, nur wenige Stunden bevor dort das FBI erschienen sei. Seine Identität sei hierdurch nicht adäquat geschützt gewesen, was den Prinzipien des journalistischen Quellenschutzes widerspreche.

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