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Auch in Corona-Zeiten: Armut ist politisch gewollt
Genoveva Jäckle über Armut und Corona in Zeiten der Krise
Hallo Olivier,
In den Augen der Gesellschaft spielt Corona keine Rolle mehr. Man geht davon aus, das Virus würde nur bestimmte Menschen treffen, aber nie einen selbst. So wie Armut auch. Man ist ja gesund, jung, hat einen guten Job, ein Sicherheitsnetz.
Nicht so wie ich.
Ich bin 28 Jahre alt und hatte Krebs, der meinen Lebensplan gehörig durcheinandergewirbelt hat. Und ich stehe mitten in der Ausbildung. Ich hangele mich von Monat zu Monat; und finanzielle Löcher entstehen schneller, als ich sie stopfen kann. Am Ausbildungsende werde ich (aufgrund des Fachkräftemangels, den die Pandemie vor allem in der Eventbranche noch verschärft hat) ein gutes Auskommen haben. Und bis dahin sind Lehrjahre keine Herrenjahre, das weiß ich auch. Andere haben es mit noch weniger geschafft.
Doch wie viel Kraft einem das tägliche Anlaufen gegen jene Barrieren abverlangt, die man sich selbst nicht ausgesucht hat, das wissen nur die wenigsten. Kaum ein Mensch erwacht eines Morgens und denkt sich: So, ab heute möchte ich gerne chronisch krank sein. Oder: So, ab heute lebe ich in Armut.
Lesen Sie den Brief von Olivier David an Genoveva Jäckle hier.
Die Gesellschaft, eine unglaublich reiche, übersättigte, manchmal schon reizüberflutete Gesellschaft, hat uns nicht im Blick. Sie sieht Abziehbilder und Stereotypen, die über Jahrzehnte etabliert wurden: den faulen Hartzer, der in fleckigem Unterhemd vor dem TV hockt. Oder die Nervensäge, die immer noch Masken einfordert und nicht wahrhaben will, dass Corona kein Thema mehr ist.
Auch wir wollen nur (über-)leben. Und das wird an beiden Fronten zurzeit zunehmend schwieriger. Inflation und Energiekrise zehren jeden noch so kleinen finanziellen Spielraum auf, Mangelernährung wird immer mehr zum Problem. Menschen stehen vor der Entscheidung: Medikamente (Tests, Masken?) oder Essen? Dass in einem so reichen Land wie Deutschland Menschen diese Not erleben müssen, hätte mein zwölfjähriges Ich nie für möglich gehalten. Schon in diesem Alter war ich der Meinung, dass Not nicht hingenommen und schon gar nicht begünstigt werden sollte.
Du hast in deinem Brief unser Treffen beschrieben, als wir beide von einem Fernsehsender für eine Formatentwicklung zum Thema Armut eingeladen wurden. Ich konnte mit dir nicht zu Mittag essen, weil mir das zu riskant erschien. Am deutlichsten trennte mich von euch meine Maske. Aber der Tag hat mir auch sehr deutlich vor Augen geführt, wie viel mehr es über Medien und Journalismus zu wissen gibt. Als Kind hatte ich selbst davon geträumt, diesen Berufsweg einzuschlagen. Ein Traum, der – wie so viele – den nicht vorhandenen Finanzen meiner Familie zum Opfer gefallen ist.
Nur wenn wir Betroffene sichtbar sind, als Menschen und nicht als Abziehbilder, nur dann können wir hoffen, dass andere sich mit uns solidarisieren und gegen armutsfördernde und armutserhaltende Strukturen aufbegehren. Wir müssen zeigen, dass inzwischen mehr als 14 Millionen Menschen in Deutschland ein Leben führen, das mit Selbstbestimmung und Menschenwürde nicht mehr viel zu tun hat.
Wir alle sind nur ein paar schlechte Monate, eine weitere Pandemie oder einen Unfall von der Armut entfernt. Es geht so schnell. Es trifft entgegen der landläufigen Meinung nicht nur die »Faulen«. Armut kann jeden treffen. Ich habe einen nicht ungefährlichen Beruf gewählt. Ich kann jederzeit arbeitsunfähig sein. Und auch dann möchte ich ein Leben in Würde führen können. Armut ist nicht gottgegeben. Sie ist politisch gewollt. Und das steht gegen den ersten Artikel unseres Grundgesetzes.
In diesem Sinne dir ein ganz großes Danke für deinen Einsatz gegen Armut und Klassismus. Wir brauchen Menschen wie dich. Die hinsehen, zuhören, reflektieren. Und denen Gehör verleihen, deren Stimmen sonst untergehen würden.
Bis bald.
Veva
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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