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Jahrhunderte des Hasses
Tilman Tarach über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus
Wie sich der vormoderne christliche Judenhass zum modernen rassistischen verhält, ist eine der zentralen Fragen der Antisemitismusforschung. In Deutschland scheint in Alltagsverstand und weiten Teilen der Forschung die Sache klar: Nicht nur unterscheiden sich Antijudaismus und Antisemitismus so deutlich, dass eine semantische Unterscheidung zwingend ist. Der Antijudaismus sei mit den Objekten seines Hasses auch deutlich wohlwollender umgegangen, als der Antisemitismus.
Diese Vorstellung grundlegend infrage zu stellen, ist das Anliegen von Tilman Tarach. Für dieses Vorhaben nimmt er die Leser*innen auf eine schockierende Zeitreise mit, vom Urchristentum über das Mittelalter bis in die Gegenwart. Doch stehen nicht nur christliche Akteure im Fokus seiner Untersuchung. Vielmehr geht es ihm darum, aufzuzeigen, wie selbst scheinbar nicht mit dem Christentum in Verbindung stehende Bewegungen wie der Nationalsozialismus, der gegenwärtige Antizionismus oder gar der moderne Islamismus vom christlichen Antisemitismus geprägt sind.
Dass Martin Luther mit zunehmendem Alter ein immer wüsterer Judenhasser wurde, ist mittlerweile weitgehend bekannt. Dass es sich dabei jedoch keinesfalls um eine persönliche Marotte handelte, sondern sich der Wittenberger Reformator auf höchste Autoritäten berufen konnte, ist kaum bekannt. So war es der Jesus Christus des Johannes-Evangeliums, der zu den Juden im Tempel sagte: »Ihr habt den Teufel zum Vater!« Eine folgenreiche Verwünschung, denn niemand anderes als der Messias und Sohn Gottes selbst setzte damit die Juden praktisch mit dem personifizierten absoluten Bösen gleich.
Als genauso unheilvoll sollten sich bestimmte Deutungen des Gründungsmythos der christlichen Weltreligion erweisen, nach denen es die Juden waren, die den Tod des Messias am Kreuz zu verschulden hätten. Deutungen, die letztlich die Blaupause für jeden antisemitischen Verschwörungsmythos der Geschichte werden sollten. Denn wer – im Sinne der Glaubensgrundsatz gewordenen Trinitätslehre – so mächtig ist, Gott selbst den Kreuzestod erleiden zu lassen, der kann nichts anderes sein, als Teil einer »teuflischen Allmacht«. Die Quellen, die Tarach vorlegt, um zu zeigen, wie verbreitet diese Vorstellung war und bis heute ist, sind erschreckend. Der Vatikan rückte erst 1965 davon ab.
Ein besonderer Fokus von Tarachs Studie liegt darauf nachzuzeichnen, wie sehr die Nazis in Wort, Tat und Motiven durch die antisemitische Tradition des Christentums geprägt waren. »Die Abspaltung des christlichen Antisemitismus vom Nationalsozialismus dient mithin der moralischen Rettung des eigenen, christlich geprägten Kollektivs«, fasst Tarach das Ergebnis seiner Forschung zusammen. Ob diese Bezugnahmen durch die Nazis intentional, kulturell tradiert oder instrumentell waren, wird sich im Einzelnen schwerlich belegen lassen. Doch dass diese Bezugnahmen weder zufällig noch vereinzelt waren, lässt sich kaum leugnen. So bezogen sich Einzelpersonen wie Adolf Hitler, Julius Streicher und Heinrich Himmler immer wieder explizit auf antisemitische Deutungen der Evangelien und positionierten sich in ihrem Vernichtungskampf gegen die Juden unmittelbar in der Nachfolge Christi. Auch das Hetzblatt »Der Stürmer« bediente stetig die gesamte Klaviatur des christlichen Antisemitismus.
Ihrer den Massenmord begleitenden Praxis konnten die Nazis aus einem reichen Fundus christlicher Tradition schöpfen. So wurden die ersten antisemitischen »Blutreinheitsgesetze« im 15. Jahrhundert in Spanien beschlossen, die vor allem dazu dienten, zum Christentum konvertierte Juden und ihre Nachfahren aus wichtigen Positionen fernzuhalten. Die bereits erfolgte Konversion – ein häufig genanntes Argument, um die Rigidität des christlichen Judenhasses zu verharmlosen – konnte viele dieser Menschen nicht davor retten, von der Inquisition zum Tode verurteilt zu werden. Ebenso geht der Judenstern auf den gelben Fleck aus dem mittelalterlichen christlichen Europa zurück. In einigen Teilen Osteuropas führte die deutsche Besatzungsmacht sogar dieses ursprüngliche Symbol der Markierung der Juden anstelle des Judensterns ein.
In den punktuellen theoretischen Reflexionen seiner historischen Studie bezieht sich Tarach vor allem auf die Kritische Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie auf psychoanalytische Theorien, darunter von Ernst Simmel. Wenn nicht eng an den historischen Primärquellen arbeitend – von der Bibel über Wilhelm Marr bis zu Hitler und der jesuitischen Zeitung »La Civilità Cattolica« –, dann greift Tarach auf Standardwerke wie die Studien von Léon Poliakov zurück. Er beruft sich zudem auf die Arbeiten von US-amerikanischen Forschern wie David Kertzer, Daniel Goldhagen oder Raul Hilberg, die gleich ihm der Ansicht sind, dass die kategoriale Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus eine »Fiktion« ist.
Materialreich und durchweg hervorragend geschrieben, bietet »Teuflische Allmacht« selbst für Leser*innen mit Vorkenntnissen neue Erkenntnisse. Eine tiefere Analyse des modernen Antisemitismus, die für einen Vergleich mit dem christlichen Antijudaismus notwendig wäre, kann Tarach auf diesem begrenzten Raum selbstredend nicht leisten. Doch nach der Lektüre des Buches scheint die in der Einleitung formulierte These kaum widerlegbar, dass die »bisweilen gar zum Glaubensbekenntnis gewordene kategoriale Unterscheidung zwischen sogenanntem christlichen Antijudaismus und modernem Antisemitismus nicht haltbar ist und letztlich einer Entlastungsstrategie folgt«.
Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Edition Telok, 224 S., br., 14,80 €.
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