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- Der Paragraf 129 StGB: Eine juristische Allzweckwaffe
Prozess gegen Lina E. und der §129 StGB
Nicht nur im sogenannten Antifa-Ost-Prozess wird der Strafrechtsparagraf in Stellung gebracht
Gegenüber den Klimaaktivisten der Letzten Generation erhebt die Staatsanwaltschaft den Verdacht der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« laut Paragraf 129 des Strafgesetzbuches (StGB). In Thüringen ermittelte ein der AfD nahestehender Staatsanwalt 16 Monate wegen desselben Vorwurfs gegen das »Zentrum für politische Schönheit«. Auch im Prozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte wegen Angriffen auf Neonazis steht eine Verurteilung nach Paragraf 129 StGB im Raum. Gründe genug, Geschichte und Funktion jenes Tatbestandes näher zu betrachten.
Nach § 129 Absatz 1 wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer eine Vereinigung gründet, die »darauf gerichtet ist, Straftaten zu begehen, die im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind«. Ebenso wird bestraft, wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt. Bis zu drei Jahre Knast drohen demjenigen, der für die Vereinigung wirbt oder sie unterstützt.
Der Tatbestand geht unter anderem auf das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 zurück, in dem in Paragraf 129 die »staatsfeindliche Verbindung« unter Strafe gestellt wurde. Der aktuelle Paragraf und seine Vorläufer zählten immer zum festen Arsenal der politischen Justiz. Im Kaiserreich konnte mit ihm gegen Arbeiterbünde und die SPD vorgegangen werden, während in der Weimarer Republik in Verbindung mit dem Republikschutzgesetz von 1922 insbesondere die KPD und die Arbeit in der Roten Hilfe kriminalisiert wurden.
Gegen Kommunisten und Hausbesetzer
Mit dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz 1951 als Paragraf 129 wieder aufgelegt, erstmals mit der Bezeichnung »Bildung einer kriminellen Vereinigung«, diente er in einer Zeit, in der der Antikommunismus als Integrationsideologie der Bonner Republik fungierte, der Kriminalisierung kommunistischer und vermeintlich kommunistischer Organisationsarbeit. Später war es die Hausbesetzerbewegung, gegen die hunderte Ermittlungsverfahren nicht nur wegen Hausfriedensbruchs, sondern auch nach Paragraf 129 eingeleitet wurden.
Kaum ein oppositionelles Politikfeld blieb von 129er-Ermittlungen verschont. Erst recht nicht, wenn Ansätze von Widerstandsaktivitäten sichtbar wurden. In den Jahren nach 1976 fand der Paragraf vor allem Anwendung, wenn die Gruppierung nicht als terroristische Vereinigung (Paragraf 129a) verfolgt werden konnte. Prominentes Beispiel war zeitweilig die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK.
Was macht den Paragrafen 129 zur juristischen Allzweckwaffe bei der Bekämpfung entschiedener Opposition? Erstens: Er ist ein »Organisationsdelikt«, begründet also eine Strafbarkeit weit im Vorfeld der Vorbereitung konkreter strafbarer Handlungen. Man nennt dies auch Vorfeldkriminalisierung. Der Tatbestand erlaubt die Bestrafung der Gründer und einfachen Mitläufer einer Organisation, ohne dass Straftaten begangen worden sein müssen. Und er lässt auch die Kriminalisierung Außenstehender zu, die für die Organisation werben oder sie unterstützen.
Lizenz zum Schnüffeln
Zweitens: Mit Paragraf 129 geht eine Beweisvereinfachungstechnik einher. Denn es muss dem Beschuldigten nicht die Beteiligung an einer konkreten Tat nachgewiesen werden. Drittens: Der Verdacht der »Bildung einer kriminellen Vereinigung« ist wie ein »Sesam-öffne-dich« für Strafverfolger. Denn damit sind sehr weitgehende Ermittlungsbefugnisse verbunden. So erlaubt der Verdacht unter anderem Telefonüberwachung, Online-Durchsuchung, Abhören und Aufzeichnung des nicht öffentlich gesprochenen Worts. Die Ausforschung einer bestimmten Szene ist den Ermittlern dabei nicht selten wichtiger als der Tatnachweis. Dieses Phänomen erklärt auch zum Teil die Diskrepanz zwischen der Zahl der Ermittlungsverfahren und den wenigen Verurteilungen. Oft wird daher auch von einem »Ausforschungstatbestand« gesprochen.
Instrument der Diffamierung
Viertens. Die Beschuldigung nach Paragraf 129 hat den Effekt der Diffamierung politischer Akteure. Sie werden in die Nähe des organisierten Verbrechens gerückt. So werden etwa die gewaltlosen Aktionen der Letzten Generation durch einen Großteil der Politik und Medien in einer Art Verstärkerkreislauf entpolitisiert und dann durch den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung durch die (weisungsabhängige!) Staatsanwaltschaft delegitimiert. Ob wirklich Anklage erhoben wird, ist dann sogar zweitrangig.
Der Tatbestand des § 129 kollidiert jedoch mit dem Idealtyp eines rechtsstaatlichen Strafrechts. Dieses unterscheidet grundsätzlich zwischen strafloser Vorbereitung und strafbarer Handlung. Mit der Vorfeldkriminalisierung wird die Grenze zwischen strafloser Vorbereitung und strafbarer Handlung aufgelöst. Die tatsächliche Begehung eines Delikts, die Verletzung eines Rechtsguts und der individuelle Schuldnachweis sind keine Voraussetzungen der Strafbarkeit mehr, sondern die Gesinnung und die sozialen Kontakte. Die Strafbarkeit nach § 129 reicht weit in die Grundrechtsausübung hinein. Das (rechtsstaatliche) Tatstrafrecht wird an dieser Stelle in Frage gestellt und verliert eine seiner Funktionen, nämlich die der Begrenzung staatlicher Macht. Der Befund wird auch nicht durch den Umstand besser, dass es ähnliche Konstruktionen in den USA gibt oder dass seit den 90er Jahren auch gegen rechte Organisationen auf der Grundlage des § 129 ermittelt wird.
Der § 129 hat seit 1951 manche Änderung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Gesetzgebung erfahren. Mal ist er entschärft, mal verschärft worden. Die letzte Neuerung erfolgte 2017. Die Bundesrepublik musste eine Vorgabe des Europarats zur besseren Bekämpfung der »Organisierten Kriminalität« (OK) umsetzen. Der § 129 fristete in dieser Hinsicht bisher ein Schattendasein. Das hing auch mit der von der Rechtsprechung getroffenen engen Definition der »kriminellen Vereinigung« zusammen, die für Gruppierungen der OK, für die der Begriff der »Bande« zutraf, nicht passte.
Der Gesetzgeber hat der Vorgabe Rechnung getragen, indem er eine Legaldefinition für die »kriminelle Vereinigung« einfügte. Diese ist extra so gehalten, dass eine strafrechtliche Verfolgung politischer Organisationen nach § 129 weiter möglich ist. Andererseits könnten nun bei entsprechender Auslegung auch lose Netzwerke der OK unter den Begriff fallen. Es hängt von der Rechtsprechung ab: Folgt sie weiter einer restriktiven oder schwenkt sie um auf eine extensive Auslegung des Begriffs der Vereinigung. Die Konsequenz wäre eine noch weitergehende Vorverlagerung der Strafbarkeit, die ebenso losere politische Netzwerke treffen dürfte. Eine solche Auslegung könnte auch den Dresdener Angeklagten zum Nachteil gereichen.
Volkmar Schöneburg ist promovierter Jurist und Linke-Politiker. 2009 bis 2013 war er in Brandenburg Justizminister.
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