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Gynäkologe: »Der Frauenhass in den USA ist außerordentlich«
Das Recht auf Abtreibung wird in den USA immer weiter beschnitten. Der Gynäkologe L. Lewis Wall erläutert die fatalen Folgen
Einer Umfrage zufolge fordern 17 Prozent der weiblichen und 14 Prozent der männlichen Republikaner in den USA ein absolutes Abtreibungsverbot. Warum sind diese Frauen so streng mit sich und anderen?
Der Zugang zur Abtreibungspille Mifepriston bleibt in den USA zumindest kurzfristig gewährleistet. Der Oberste Gerichtshof in Washington verschob am Mittwoch seine mit Spannung erwartete Entscheidung zu der Pille um zwei Tage. Zugleich verlängerte er die Aussetzung von Urteilen unterer Instanz, die den Einsatz von Mifepriston untersagen oder stark einschränken würden, bis Freitag um Mitternacht. So lange bleibt der Zugang zu der Abtreibungspille bewahrt, die in den USA bei mehr als jedem zweiten Schwangerschaftsabbruch eingesetzt wird.
Ein Bundesrichter im Bundesstaat Texas hatte vor knapp zwei Wochen die im Jahr 2000 erteilte Zulassung für Mifepriston durch die US-Arzneimittelbehörde FDA aufgehoben. Ein Bundesberufungsgericht im Bundesstaat Louisiana kippte diese Entscheidung zwar, verschärfte aber gleichzeitig die Auflagen, unter denen die Pille verschrieben werden darf. So wäre der Einsatz nur noch bis zur siebten und nicht mehr bis zur zehnten Schwangerschaftswoche möglich, außerdem könnte Mifepriston nicht mehr per Post verschickt werden.
Die US-Regierung zog vor den Supreme Court, um gegen diese Urteile vorzugehen und weiterhin einen freien Zugang zu Mifepriston zu ermöglichen. Der Gerichtshof legte die Urteile dann am vergangenen Freitag zunächst bis Mittwoch um Mitternacht auf Eis. AFP/nd
Herz und Seele der Anti-Abtreibungskampagne sind gläubige Fundamentalisten, darunter meist weiße, evangelikale Protestanten und fanatische Katholiken. Frauen, die diese Überzeugungen selbst vertreten, bekräftigen damit die religiösen Werte, die ihnen von ihrem Glaubenssystem eingeprägt werden: Ihnen wurde das Denken eingetrichtert, dass der Wert, den sie in der Gesellschaft haben, einzig und allein darin besteht, Ehefrauen und Mütter zu sein. Von Frauen, die sich in anderen Bereichen außerhalb des Hauses hervortun, wird nicht nur angenommen, dass sie gegen grundlegende christliche, moralische Prinzipien verstoßen. Sie werden sogar als direkte Bedrohung für den sozialen Status und die Position fundamentalistisch-christlicher Frauen angesehen, die glauben, dass ihr angemessener Platz dem des Mannes untergeordnet sei.
Viele neue staatliche Gesetze in den USA machen in ihren Abtreibungsverboten auch keine Ausnahme, wenn Schwangerschaften auf eine Vergewaltigung oder Inzest zurückgehen.
Viele Staaten verlangen zum Beispiel von Frauen, deren Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung oder Inzest zurückgehen, bevor ihnen eine Ausnahme gewährt wird, dies innerhalb eines engen Zeitfensters bei der Polizei zu melden und die Anzeige dokumentieren zu lassen. Diese Gesetze erfassen überhaupt nicht das Trauma, das sexuelle Übergriffe oft mit sich bringen, und sind darauf angelegt, nicht vertrauenswürdige, intrigante Frauen zu »erwischen«, die versuchen könnten, das Gesetz nur zu umgehen, um so bequem eine Abtreibung zu erwirken. Der Frauenhass hinter diesen Gesetzen ist außerordentlich.
Ausnahmen gibt es in manchen Staaten auch dann nicht, wenn der Fötus eine tödliche Anomalie aufweist oder das Leben der Mutter bedroht ist. Wie wirkt sich das aus?
Das ist noch völlig unklar. Da es in den republikanisch regierten Staaten massive Fehlinformationen über Schwangerschaft und mögliche Komplikationen dabei gibt, berücksichtigen Anti-Abtreibungsgesetze auch oft die klinischen Szenarien nicht, denen Gynäkologen und Hebammen jeden Tag im Umgang mit komplizierten Schwangerschaften und Geburten gegenüberstehen. Einige Bundesstaaten wie Louisiana haben eine lange Liste medizinischer Ausnahmen erstellt, die unmöglich alle klinischen Verläufe abdecken kann. Viele andere Staaten machen keine Ausnahmen: Einige Gesetzgeber machen keinen Unterschied zwischen einer künstlich befruchteten Eizelle aus einer In-vitro-Fertilisation, die weggeworfen wird, einer gefährlichen Eileiterschwangerschaft, einer Abtreibung im ersten Trimester, einer Abtreibung im zweiten Trimester oder einem Mord. Es gibt landesweit keine einheitlichen Regeln mehr.
Bedeutet das schlussendlich, dass Schwangeren in einem Bundesstaat mit einem totalen Abtreibungsverbot auch keine medizinische Hilfe mehr gewährt wird?
Es gibt eine ganze Reihe von komplizierten und dramatischen Fällen. Eine Ärztin wird mit Strafverfolgung bedroht, weil sie ihrer zehnjährigen Patientin nach einer Vergewaltigung geholfen hat, ins Ausland zu reisen, um die Schwangerschaft zu beenden. Eine andere Frau mit einer Fehlgeburt wird blutend, mit Schmerzen und trotz Infektionsrisikos aus der Notaufnahme nach Hause geschickt, weil die Ärzte Angst vor den möglichen Konsequenzen haben, wenn sie der Frau die routinemäßige Versorgung zukommen lassen. Gegen Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten haben, wird wegen des Verdachts möglicher strafrechtlicher Verantwortung ermittelt. Bis zur Aufhebung des Urteils »Roe versus Wade« war das alles kein Thema.
Knapp sieben Millionen Frauen und Mädchen werden nach Angaben des UN-Bevölkerungsfonds jährlich wegen Komplikationen nach unsicheren Abtreibungen in Kliniken eingeliefert, und noch viel mehr Frauen fehlt dieser Zugang. Gibt es Daten für die USA?
Derzeit gibt es nicht genügend Daten, um sagen zu können, ob sich etwas in dieser Richtung geändert hat. Ich denke aber schon, dass ein solches Szenario für die USA zu erwarten ist. Da Abtreibungen in vielen Bundesstaaten nun in den Untergrund gedrängt werden, wird es schwierig sein, überhaupt Daten zu generieren, um solche Trends zu verifizieren.
Die Müttersterblichkeit wird in den Vereinigten Staaten vermutlich noch weiter ansteigen?
Ja, da habe ich keinen Zweifel dran. Mit 24 Todesfällen auf 100 000 Lebendgeburten ist die Müttersterblichkeit in den Vereinigten Staaten ohnehin weitaus höher als in anderen Industrienationen. Sie ist fast dreimal höher als zum Beispiel in Frankreich. Die Rate ist bei Frauen zwischen 15 und 19 Jahren sogar doppelt so hoch, dreimal so hoch bei Schwarzen Frauen und sogar noch höher bei Mädchen unter 14 Jahren. Schwangerschaften bergen in vielfacher Hinsicht Gefahren, insbesondere für junge Heranwachsende und für Frauen an der oberen reproduktiven Altersgrenze.
In Arkansas können Ehemänner und Lebenspartner von Frauen, die eine Abtreibung planen oder durchführen, rechtliche Schritte gegen die Frau einleiten.
Diese Frauen haben Pech. Diese Gesetze beruhen auf »Elternschaft«, zielen darauf ab, dem Mann, der die Schwangerschaft verursacht hat, ein Mitspracherecht darüber zu geben, was mit der schwangeren Frau passiert. Dies ist ein Überbleibsel alter patriarchalischer Vorstellungen, dass ein Fötus das Eigentum des Mannes sei. In einigen Staaten können, wenn eine Geburt ansteht, einem Vergewaltiger tatsächlich Rechte gegenüber der schwangeren Frau und dem Fötus zustehen, sogar elterliche Rechte. Es ist nicht nachvollziehbar.
Was will man mit solchen Gesetzen bezwecken, wenn sie doch für viele Frauen erhebliche soziale Konsequenzen, Stigmatisierung und Ausgrenzung mit sich bringen?
Ziel all dieser Gesetze ist es, Abtreibungen unter allen Umständen undenkbar zu machen. Viele Gesetzgeber in diesen Staaten wollen intrauterine Verhütungsmittel oder Plan B, die sogenannte »Pille danach«, verbieten, indem sie diese als Abtreibungsmittel ausweisen – was sie jedoch gar nicht sind. Um das nachvollziehen zu können, muss man wissen, dass diese Gesetze von religiösen Fanatikern geschrieben werden. Frauen sind für sie lediglich »Gefäße«, um Schwangerschaften für Männer auszutragen. In dieser ganzen Debatte geht es darum, die Unterwerfung der Frau unter ihre einzig korrekte, akzeptable, biologische Rolle, die der Ehefrau und Mutter, zu unterstützen und zu stärken.
Sechs Staaten erlauben Abtreibungen nur bis zur sechsten Schwangerschaftswoche, wie zum Beispiel Georgia. Viele Frauen wissen bis dahin nicht einmal, dass sie schwanger sind. Steht ihnen denn für diese kurze Zeit schnelle und umfassende Beratung und medizinische Hilfe zur Verfügung?
Nein. Die Gesetze sehen keine allgemeine Fürsorge für Mütter vor. Einige Bundesstaaten wie Florida finanzieren zum Beispiel sogenannte Krisenschwangerschaftszentren, die nichts anderes sind als Anti-Abtreibungskliniken, die Frauen davon überzeugen sollen, dass ihre einzige Option darin besteht, die Schwangerschaft fortzusetzen. Den Frauen wird keine soziale, finanzielle, psychologische oder medizinische Hilfe angeboten, sondern nur eine religiöse »Beratung«, die als »medizinische Beratung« getarnt ist.
In Florida ist Leihmutterschaft erlaubt. Was bedeuten diese Gesetze für Leihmütter, wenn sich herausstellt, dass Mehrlinge heranwachsen oder ein Fötus Behinderungen aufweist und die intendierten Eltern die Kinder ablehnen?
Die Embryonen-Reduktion bei Mehrlingen käme einer Abtreibung gleich und ist illegal. Und jede Person, die eine Abtreibung unterstützt oder durchführt, kann dafür haftbar gemacht werden.
Rund die Hälfte aller Todesfälle bei Müttern im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt gehen in Texas auf schwere Depressionen, ökonomische Notlagen und Drogenmissbrauch zurück. Versucht man mit solchen restriktiven Gesetzen auch, soziale Probleme aus der Welt zu schaffen, indem man drogen- und medikamentenabhängige Frauen wegen einer Kindesgefährdung im Mutterleib anklagen kann?
Solche Gesetze sind absurde, einfallslose, simpel gestrickte Herangehensweisen an komplexe soziale Probleme. Sie haben zum Ziel, zum Beispiel Frauen, die aufgrund von Drogenmissbrauch eine Problemschwangerschaft haben, zu bestrafen, und verhindern damit, dass diese Frauen vertrauensvolle, therapeutische Beziehungen zu medizinischem Personal aufbauen können. Dahinter stehen eindeutig fundamentalistisch-religiöse Denkmuster, die von Intoleranz befeuert werden. Man würde ein solches Handeln eher in Afghanistan vermuten, doch haben wir es hier mit fundamentalistischen Christen in den USA zu tun.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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