Sechs Überlebende in Ravensbrück

Brandenburgs KZ-Gedenkstätten feiern dieses Wochenende den 78. Jahrestag der Befreiung der Lager

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Traditionell werden in Ravensbrück Blumen in den Schwedtsee gelegt, da in der Nazizeit Asche aus dem Krematorium des Konzentrationslagers in dieses Gewässer gekippt wurde.
Traditionell werden in Ravensbrück Blumen in den Schwedtsee gelegt, da in der Nazizeit Asche aus dem Krematorium des Konzentrationslagers in dieses Gewässer gekippt wurde.

Ilse Heinrich hat Grausamkeit gesehen und am eigenen Leibe erfahren. 1944 wurde sie ins Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Die Faschisten stuften sie als »arbeitsscheu« ein.

Dabei wollte das junge Mädchen nur nicht dienstverpflichtet bei fremden Leuten auf einem Bauernhof schuften und war von dort mehrfach weggelaufen. »Das war schlimm«, hat sie 65 Jahre später über ihre Zeit im KZ erzählt. Dass sie hungrig eine verdorbene Kartoffel aus dem Mülleimer genommen und gegessen hatte, bestrafte die SS mit Nahrungsentzug. Einmal schüttete ihr eine Aufseherin im Winter einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Ein anderes Mal schlug ein SS-Mann sie mit dem Knüppel zusammen. Wenn eine Kameradin geflohen und erwischt worden war, mussten die Häftlinge die von Hunden zerfleischte Leiche anschauen und sich drohen lassen, so würde es ihnen auch ergehen.

2022 hat Ilse Heinrich die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung besucht. Fotos zeigen sie im Rollstuhl sitzend, wie sie sich die Tränen aus den Augen wischt. Heinrich war im Frühjahr 1945 krank und schwach und konnte nicht laufen. So blieb sie wie 3000 andere im Lager zurück, als die SS die übrigen Häftlinge auf Todesmärsche trieb. Dieses Wochenende begeht die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück den 78. Jahrestag der Befreiung.

Bei der Gedenkfeier am Sonntag um 10 Uhr wird neben Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) auch Ib Katznelson sprechen. Er wurde als dänischer Jude im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter Karen nach Ravensbrück deportiert. Katznelson ist einer von sechs Überlebenden, die zu diesem Termin erwartet werden.

Insgesamt stehen 17 Veranstaltungen auf dem Programm, die sich auf die Tage bis zum 30. April verteilen. Los ging es bereits am Donnerstag mit der Vorstellung eines Buches über vier Kinder, die den Holocaust überlebt hatten – in Anwesenheit von Emmie Arbel, deren Schicksal in dem Buch »Aber ich lebe« beleuchtet wird. Am Freitag erneuerten Schüler der Berliner Ernst-Litfaß-Schule mit ihrem Lehrer Ingo Grollmus Wegmarkierungen vom Bahnhof Fürstenberg/Havel zur Gedenkstätte. Dort entlang waren einst zahlreiche Frauen in das Lager getrieben worden.

Auch Irene Fainman-Krauß, Marla Tribich und Barbara Piotrowska waren noch Kinder, als sie ins Konzentrationslager Ravensbrück kamen. Ingelore Prochnow kam dort zur Welt. Fainman-Krauß lebt heute in Südafrika, Tribich in Großbritannien, Piotrowska in Polen, Prochnow in Deutschland und Emmie Arbel in Israel.

Auch in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen wird dieses Wochenende der Jahrestag der Befreiung gefeiert. Hier werden die Überlebenden Emil Farkas und Edward Farber aus Israel sowie Edgar Dzialdow aus Hamburg dabei sein. Mit Emil Farkas wird es am Samstag um 11 Uhr ein Zeitzeugengespräch geben. Er hatte 2021 in Brandenburg/Havel im Prozess gegen den damals 100 Jahre alten ehemaligen SS-Wachmann Josef S. ausgesagt.

Ebenfalls auf dem Programm stehen am Samstag Führungen über das Gelände (Treffpunkt: 11 Uhr und 14 Uhr am Besucherinformationszentrum) und durch die Sonderausstellung »Auftakt des Terrors – Frühe Konzentrationslager im Nationalsozialismus« (Treffpunkt: 12.45 Uhr im Foyer des Neuen Museums) sowie durch das Depot der Gedenkstätte (Treffpunkt: 15.30 Uhr vor der ehemaligen Häftlingswäscherei).

Am Sonntag gibt es dann um 15.30 Uhr die zentrale Gedenkfeier mit Ansprachen von Brandenburgs Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) und dem Überlebenden Edward Farber. Das Kaddisch, das jüdische Gebet für Verstorbene, spricht Rabbiner Andreas Nachama. Sein Vater Estrongo Nachama stammte aus Griechenland und hatte die Lager Auschwitz und Sachsenhausen überlebt und auch den Todesmarsch. Seine Eltern und seine Schwestern wurden in Auschwitz ermordet. Aber seine schöne Baritonstimme fiel den Wachmannschaften auf. Er war später überzeugt, dass ihm dies das Leben gerettet hatte. Denn Estrongo Nachama musste abends auf dem Appellplatz singen. Er wurde am 5. Mai 1945 von sowjetischen Soldaten in der Nähe von Nauen im Havelland befreit und ab 1948 als Kantor und Sänger international bekannt. Gestorben im Jahr 2000, ist Estrongo Nachama auf dem jüdischen Friedhof an der Berliner Heerstraße beigesetzt.

Noch vor der Gedenkfeier werden am Sonntag Gedenkzeichen für die Opfer des letzten Deportationszugs mit politischen Gefangenen aus Frankreich und für den 1940 in Sachsenhausen ermordeten Abraham Landowski eingeweiht. Landowski war Kaufmann und lebte in Berlin-Mitte in der Elsässer Straße 35, heute Torstraße 207. Dort erinnert seit vergangenem Jahr bereits ein Stolperstein an ihn. Landowski wurde 1938 nach Polen abgeschoben, 1939 ins KZ Sachsenhausen eingeliefert und dort mit der Häftlingsnummer 9505 registriert.

In der Todesmarsch-Gedenkstätte im Belower Wald bei Wittstock wurde bereits am Freitagnachmittag an die historischen Ereignisse erinnert. Hier hatten Ende April 1945 rund 16 000 Sachsenhausen-Häftlinge unversorgt tagelang unter freiem Himmel lagern müssen. Mehr als 1000 Menschen kamen auf dem Todesmarsch um. Wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Reden sollte im Belower Wald Mireille Cadiou, Tochter des französischen Widerstandskämpfers Marcel Suillerot. Er war 1943 in das KZ Sachsenhausen überstellt worden und hatte erst im Außenlager Heinkel-Flugzeugwerke Zwangsarbeit leisten müssen, bevor er in das gefährliche Bombenräumkommando gesteckt wurde. Suillerot überlebte den Todesmarsch und kehrte nach Frankreich zurück, wo er bei der Eisenbahngesellschaft arbeitete.

Wie viele ehemalige Insassen des Lagers Ravensbrück heute noch leben, vermag die Stiftung brandenburgische Gedenkstätten leider nicht einmal schätzungsweise zu sagen. Die Gedenkstätte Sachsenhausen habe aber Kontakt zu 40 von ihnen weltweit, erklärt Sprecher Horst Seferens. Im Falle der Gedenkstätte Ravensbrück seien es 150.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Zahl für Ravensbrück höher ist als die für Sachsenhausen. Denn in dem Frauen-KZ Ravensbrück waren mit ihren Müttern viele Kinder.

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