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Blockaden der Letzten Generation: »Wenn nicht so, wie dann?«
Protestforscher Jannis Grimm über die Blockaden der Letzten Generation und wie sie mehr Klimaschutz voran bringen
Ziviler Ungehorsam gehört zum festen Repertoire von sozialen Bewegungen. Warum diese Aufregung um die Letzte Generation?
Die Symbolik von zivilem Ungehorsam wurde in den letzten Jahrzehnten vor allem dann verstanden, wenn sich Ort und Adressaten der Aktion mit der zugewiesenen Verantwortlichkeit für die angesprochenen Missstände deckten. Im Hambacher Forst oder in Lützerath traf der Protest fossile Energiekonzerne, also diejenigen, die einfacher für den Klimawandel verantwortlich gemacht werden können. Die Straßenblockaden finden dagegen in unserem Alltag statt, viele Leute identifizieren sich mit den Autofahrern, die davon betroffen sind, viele stehen vielleicht selbst sogar abstrakt hinter einer progressiveren Klimapolitik und meinen daher, es trifft die Falschen.
Dr. Jannis Grimm leitet die Forschungsgruppe »Radical Spaces« am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin und ist Vorstandsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung.
Ist da nicht etwas dran?
Das lässt sich natürlich nicht leicht wegwischen. Andererseits treffen Klimawandel und die Folgen auch die Falschen. Auch da sind Verantwortung und Schaden ungleich verteilt. Aber die Auseinandersetzung findet nicht nur auf einer rationalen Ebene statt. Vielmehr spielt das Phänomen von »Not in my backyard« eine Rolle: Abstrakt ist man schnell dabei, seine Solidarität auszudrücken, also etwa für mehr Klimaschutz zu sein. Wenn es aber konkret wird, dann möchte keiner das Windrad vor der Haustür stehen haben, niemand wegen Blockaden im Stau stehen
Oder will man einfach nur nicht ständig an das ungelöste Problem erinnert werden?
Das ist ein weiterer Aspekt. Die Aktionen erzeugen eine kognitive Dissonanz. Die Mehrheitsgesellschaft ist sich durchaus dessen bewusst, dass an dem Vorwurf der Letzten Generation etwas dran ist, es werde nicht genug unternommen gegen den Klimawandel. Weil man aber individuell nur wenige Handlungsmöglichkeiten sieht und weil das Ausmaß der Krise so unvorstellbar ist, liegt es nahe, das zu verdrängen. Wenn man dann permanent mit dem Thema konfrontiert wird, macht das aggressiv.
Ist die Kritik also richtig, die Straßenblockaden erreichen keine Mehrheiten und sind daher kontraproduktiv für das Ziel, mehr Klimaschutz durchzusetzen?
Das würde ich gar nicht sagen. Es ist die falsche Aktionsform, wenn man die Mehrheitsgesellschaft erreichen will. Aber das ist gar nicht unbedingt intendiert. Massenkompatibilität und Sympathiepunkte sind kein guter Gradmesser für Aktionen des zivilen Ungehorsams. Selbst die weithin als idealtypisch für zivilen Ungehorsam zitierte Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten war zu keinem Zeitpunkt von der Mehrheitsgesellschaft getragen, auch nicht der friedliche Teil um Martin Luther King. Die Aktionen der Letzten Generation sind darauf angelegt, zu stören und zu nerven, massive Konfrontationen und Irritation zu erzeugen. Ziviler Ungehorsam kann nicht funktionieren, wenn er nicht weh tut. Das gilt auch für Massenproteste oder Streiks. Die Letzte Generation schafft es mit ihren Aktionen, dass wir nicht einfach zum nächsten Thema übergehen.
Können Aktionen erfolgreich sein, wenn sie keine Mehrheiten erreichen?
Man muss das arbeitsteilig sehen. Es klebt sich ja nicht der überwiegende Teil der Klimabewegung auf der Straße fest oder wirft Kartoffelbrei auf Bilder. Die Mehrheit ist weit weniger konfrontativ, ist Mitglied beim Nabu, bei den Grünen oder Fridays for Future. Diese können die Aufmerksamkeit nutzen, die die Aktionen der Letzten Generationen seit Monaten erzeugen, und Lösungen anbieten. Denn die Ablehnung in der Bevölkerung gegenüber den Aktionen der Letzten Generation schlägt nicht automatisch in die Ablehnung von mehr Klimaschutz um.
Wer in der derzeitigen Debatte meint, mehr Klimaschutz ist wichtig, aber nicht auf diesem Wege, der kommt als nächstes zu der Frage: Wenn nicht so, wie dann? Und in diesem Moment braucht es ein Angebot von den anderen Akteur*innen.
Die distanzieren sich aber von den Aktionen. Üblicherweise gilt es als Stärke von Bewegungen, wenn sie verschiedene Spektren und Aktionsformen vereint.
Zum einen finde ich die Distanzierungen gar nicht so stark. Es gibt in jeder Organisation ja eine Vielfalt von Stimmen. Außerdem kann das Agieren von als »radikal« wahrgenommenen Teilen einer Bewegung die moderaten in einem umso besseren Licht dastehen lassen. Dafür muss die Bevölkerung zwischen den verschiedenen Akteur*innen und ihren Profilen unterscheiden können. Deshalb ist eine gewisse Distanz sogar zielführend. Natürlich nicht in Form von Kriminalisierung, aber eine uneingeschränkte Solidarisierung ist auch nicht hilfreich.
Die Letzte Generation wurde verglichen mit der RAF, den Taliban…
… das ist vollkommener Unsinn. Mich erschreckt die Vehemenz, mit der diese Gruppe als Sicherheitsrisiko dargestellt wird sehr. Zum einen ist der Vorwurf der Radikalisierung historisch fragwürdig: Die Auseinandersetzungen der Umweltbewegung in Wackersdorf oder Brokdorf bedeuteten seinerzeit ein ganz anders Level von Gewalt – auf beiden Seiten. Dem gegenüber ist das heute alles sehr moderat. Zum anderen agiert die Letzte Generation durchweg gewaltfrei und alles andere als antidemokratisch. Sie ist weder vermummt, noch leistet sie Widerstand beim Wegtragen. Die Aktivist*innen stellen sich offen den folgenden Gerichtsverfahren. Und sie bilden sich nicht ein, als Einzige angemessen Lösungen für die Klimakrise zu haben. Egal, was man von ihrem Vorschlag eines Gesellschaftsrats hält, er ist letztlich Ausdruck des demokratischen Selbstverständnisses der Bewegung: Die Lösung des gravierenden Missstands, auf den sie aufmerksam macht, soll die demokratische Gesellschaft finden, nicht eine kleine Avantgarde.
Übergriffe von wütenden Autofahrern auf die Aktivisten nehmen zu. Wird darauf angemessen reagiert?
Die Ablehnung könnte meines Erachtens deutlich breiter und proaktiver erfolgen. In diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Notwehr zu spielen, ist mindestens riskant angesichts der bereits konfrontativen Stimmung. Gerade diejenigen, die auf das uneingeschränkte Gewaltmonopol von Justiz und Polizei pochen, sollten solche Übergriffe klar verurteilen. Indem man hier nicht gleichfalls die ganze Härte des Gesetzes fordert, wie man das gegen die Klimablockaden bei jeder Gelegenheit tut, unterminiert man den eigenen Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit.
Was bedeutet die Auseinandersetzung über die Letzte Generation für unsere Gesellschaft?
Wir müssen uns bewusst sein: Wie wir mit solchen Aktionen umgehen, ist entscheidend dafür, wie unsere Gesellschaft sich im Hinblick auf Protest entwickelt. Die Frage, was wollen wir als demokratische Gesellschaft aushalten an Protest, wird gerade in solchen Momenten wie in Berlin neu ausgehandelt. Wir dürfen nicht vergessen: Ein Großteil der Aktionsformen, die wir heute als vollkommen unproblematisch ansehen, galt vor wenigen Jahrzehnten noch als vollkommen illegitim oder sogar illegal. Auch das Brokdorf-Urteil, Mutter aller Verfassungsentscheidungen für Versammlungsfreiheit in Deutschland, war das Ergebnis heftiger politischer Kämpfe.
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