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»Erzählen Sie Waldmärchen, Herr Wohlleben?«
Er ist wohl der berühmteste Förster der Welt. Im Interview spricht Peter Wohlleben über sein Leben als umstrittener Bestseller-Autor und erklärt, wie der angeschlagene Wald noch gerettet werden könnte
Herr Wohlleben, Ihre Bücher über den Wald haben sich allein in Deutschland über eine Million Mal verkauft. Warum interessieren die Deutschen sich plötzlich so sehr für ihren Wald?
Die Deutschen interessieren sich nicht urplötzlich für ihren Wald, sondern schon sehr lange. Aber das zuletzt noch gewachsene Interesse hat mich auch überrascht. Mein Buch »Das geheime Leben der Bäume« wurde mittlerweile in 47 Sprachen übersetzt. Es interessieren sich also nicht nur die Deutschen für den Wald, es ist ein globales Phänomen.
Förster und Autor Peter Wohlleben (58) nahm sich schon als Sechsjähriger vor, Umweltschützer zu werden. Er setzt sich für eine ökologische und nachhaltige Waldwirtschaft ein und hat mit seinen zahlreichen Büchern und der von ihm gegründeten Waldakademie in Wershofen (Rheinland-Pfalz) Millionen Menschen für den Wald begeistert.
Woran liegt das?
Viele Menschen, die in dicht besiedelten Landschaften leben, sehnen sich nach Ursprünglichkeit und Geborgenheit – und die finden sie im Wald. Bei den Gebrüdern Grimm hat der dunkle Wald noch etwas Bedrohliches. Aber jetzt merken wir: Immer größere Teile unserer grünen Lunge sind geschädigt oder komplett zerstört. Das führt zur Erkenntnis: Wir wollten doch gar nicht so mit ihm umgehen. Wir müssen die verbleibenden Wälder schützen.
Wie geht es dem deutschen Wald?
Dem noch halbwegs ursprünglichen Wald geht es gut. Den alten, intakten Laubwäldern haben die trockenen und heißen Sommer der letzten Jahre nicht allzu sehr geschadet. Aber den stark bewirtschafteten Forstplantagen geht es schlecht bis katastrophal. Deutschland verliert derzeit nach offiziellen Angaben pro Jahr ein bis anderthalb Prozent seiner Waldfläche, de facto ist es wahrscheinlich noch deutlich mehr. Durch den Klimawandel beschleunigt sich diese Entwicklung rasant.
Warum geht es den ursprünglichen Wäldern besser?
Lebende Bäume können sich zusammen als große Gemeinschaft massiv kühlen. Im Sommer kann es in einem natürlichen Wald bis zu 15 Grad kühler als in der Umgebung sein. Über intakten Wäldern entstehen deutlich mehr Regenwolken, die zu einem Wasserkreislauf führen.
Was setzt dem Wald zu?
Der größte Stressfaktor für den Wald ist die Forstwirtschaft. Über die Hälfte der Bäume in unseren Wäldern sind nicht heimische Nadelbäume. Sie wachsen vor allem in großen Fichten- und Kiefernplantagen. Diese Bäume sterben jetzt großflächig ab, weil es Baumarten aus dem hohen Norden sind, die es kalt und feucht brauchen.
Welche Rolle spielt der Borkenkäfer?
Der Borkenkäfer ist für viele angeschlagene Bäume der letzte Sargnagel. Er wird in der Geschichte vom Waldsterben oft als Bösewicht dargestellt. Aber das ist er nicht. Er ist ein Schwächeparasit, denn er kann eigentlich nur geschwächte Bäume befallen.
Auch verheerende Waldbrände haben in den letzten Jahren so viel Wald zerstört wie nie zuvor. Werden wir uns an diese Feuer gewöhnen müssen? Oder kann man etwas dagegen tun?
Wie beim Borkenkäfer sind auch bei den Bränden die Nadelbaum-Monokulturen das Hauptproblem. Nadelbäume enthalten viele ätherische Öle und brennen wie Zunder. Die Zahl der Waldbrände wird also durch den Klimawandel weiter zunehmen. Schon allein wegen der Feuergefahr müssen wir unseren Wäldern erlauben, sich zu natürlichen Mischwäldern zurückzuentwickeln.
Muss die Jagd ausgedehnt werden, um den Wald zu schützen?
Rehe fressen gerne junge Baumtriebe. In großen Kiefern-Plantagen und anderen Monokulturen, denen man helfen will, sich zu einem natürlichen Mischwald zurückzuverwandeln, kann die intensive Jagd deshalb durchaus Sinn ergeben. Aber ansonsten halte ich die Jagd weitestgehend für irrwitzig.
Warum?
Man versucht, den Verbiss von jungen Bäumen seit rund 100 Jahren mit der Jagd in den Griff zu bekommen, aber es klappt – von ein paar Ausnahmen abgesehen – nicht. Trotzdem macht man so weiter, obwohl es eine klassische Definition von Wahnsinn ist, wenn man immer wieder dasselbe macht und jedes Mal denkt, dass plötzlich etwas anderes dabei rauskommt. In natürlichen Wäldern gibt es nicht zu viel Verbiss, in aufgelichteten Forstplantagen mit viel Bodenvegetation hingegen schon. Hier können sich Rehe vermehren und fressen dann auch die gepflanzten Setzlinge aus der Baumschule. Diese anfälligen Kunstwälder, diese Rehparadiese, haben Menschen gemacht, aber das Reh wird zum Sündenbock erklärt und zum Abschuss freigegeben.
Haben Sie schon mal ein Reh geschossen?
Ja, früher schon, das gehörte zur Ausbildung. Bis ich mich näher damit beschäftigt habe, war auch ich der Meinung, dass mehr geschossen werden muss. Aber seit vielen Jahren weiß ich, dass uns das nicht weiterbringt. Schon lange habe ich nicht mehr geschossen.
Kann der Wolf in Deutschland den Jäger ersetzen?
Zunächst einmal finde ich es gut, dass der Wolf nach Deutschland zurückgekehrt ist, denn er gehört hier hin. Aber der Wolf ist kein Heilsbringer. Er ist nur ein interessantes Tier. Genau wie eine Amsel oder ein Eichhörnchen. Aber bei Amsel und Eichhörnchen fragt keiner: Wozu sind die gut? Beim Wolf hingegen wird immer eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht. Das wird dem Wolf nicht gerecht. Wenn wir alle Tiere nur nach Kosten und Nutzen bewerten würden, dann könnte man die meisten ausrotten.
Aber kann der Wolf die Rehpopulation in Deutschland regulieren?
Der Wolf kann lokale Schwankungen in der Population hervorrufen und so vereinzelt dazu beitragen, dass junge Bäume besser wachsen. Aber er kann nicht flächendeckend Wildbestände signifikant reduzieren. Dazu gibt es in Deutschland einfach viel zu wenige Wölfe.
Sie machen die Forstwirtschaft für das Waldsterben verantwortlich. Was muss sich ändern?
Wir müssen weg von der völlig auf Holzertrag fokussierten Bewirtschaftung unserer Wälder. Wir müssen endlich alle Leistungen des Waldes stärker in den Blick nehmen. Was soll der Wald in Zukunft für uns leisten? Die Kühlungs- und die Wasserspeicherfunktion muss einen höheren Stellenwert erhalten. Wir müssen gewährleisten, dass das Ökosystem Wald arbeitsfähig bleibt. Erst dann können wir schauen, wie viel wir ihm trotz Klimawandel abverlangen können. Unser Umgang mit dem Wald muss demütiger werden. Wir müssen uns eingestehen, dass das große Experiment Plantage in der Forstwirtschaft gescheitert ist.
Aber Holz wird als nachwachsender Rohstoff immer wichtiger …
Solange die Plantagen absterben und die bereits geschwächten Bäume noch schnell zu Geld gemacht werden, werden wir einen großen Holzüberschuss haben. Aber innerhalb der nächsten zehn Jahre steuern wir in einen gewaltigen Holzmangel hinein. Holz wird sehr viel teurer werden. Wir müssen endlich aufhören, mit dem Bedarf zu argumentieren, wir müssen uns schlicht und ergreifend danach richten, was das Ökosystem Wald leisten kann.
Wird weniger Holzproduktion zu weniger Wohlstand führen?
Das kommt darauf an, wie man Wohlstand definiert. Wenn Menschen am Ende ihres Lebens zurückblicken, machen für die meisten Menschen nicht Geld, sondern gute Beziehungen und Freude echten Wohlstand aus. Das ist in vielen Studien belegt. Also muss weniger Holzverbrauch keineswegs zu weniger Wohlstand führen. Wir müssen einfach die Prioritäten verschieben. Wir sollten nicht nur das Bruttosozialprodukt, sondern wie in Bhutan auch das Bruttonationalglück im Blick haben.
Sind Ihre Forderungen nicht unrealistisch und radikal?
Nicht meine Forderungen sind radikal, der Klimawandel ist radikal. Darum bin ich fest davon überzeugt, dass die Menschen der konventionellen Forstverwaltung auf die Pelle rücken werden – völlig unabhängig davon, was ich fordere. Schließlich sollen zumindest die öffentlichen Forstverwaltungen Dienstleister der Bevölkerung sein. Und wenn sie den Leuten durch Kahlschläge und eine nicht nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder einfach das Thermostat zehn Grad höher drehen und den Regen abstellen, dann wird das nicht mehr lange hingenommen werden.
Sie haben es als vielleicht einziger Förster der Welt geschafft, Popstar-Status zu erlangen. Aber weil Sie viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen scharf kritisieren, kritisieren viele Försterinnen und Förster auch Sie. Genießen Sie diese Außenseiterposition?
Nein, aber ich kann damit gut leben, auch weil ich in ein großes Netzwerk von Experten und Expertinnen aus Forstwirtschaft, Wissenschaft und Politik eingebettet bin. Mir geht es nicht ums Rechthaben. Mir geht es darum, dass wir ins Gespräch kommen und gemeinsam überlegen, was wir vom Wald wollen und was er für uns leisten kann.
Aber es gibt auch Gegenwind aus der Forschung. In Ihren Büchern schreiben Sie, dass Bäume im Wald untereinander unter anderem über ein Netz unterirdischer Pilzfäden, das sogenannte Wood Wide Web, kommunizieren. Kanadische Forscher haben diese These jetzt überprüft und können sie nur begrenzt bestätigen. Erzählen Sie Waldmärchen?
Nein. Die kanadischen Forscherinnen haben diese Forschungsergebnisse nicht widerlegt. Sie haben lediglich gesagt, dass es zu einem Prozent der Studien eine zu dünne Datengrundlage gibt und dass man die vorhandenen Daten auch anders interpretieren kann. Über mehr Forschung und eine ergebnisoffene Diskussion über neue Erkenntnisse freue ich mich immer.
Außerdem werfen die kanadischen Forscher Ihnen vor, dass Sie Bäume zu sehr vermenschlichen.
Ich finde, es ist vollkommen in Ordnung, hochkomplexe und im Verborgenen stattfindende Prozesse mithilfe von Metaphern und Analogien so zu erklären, dass auch Menschen, die sich nicht wissenschaftlich mit dem Wald beschäftigen, sie verstehen und nachvollziehen können.
Was kann jeder Einzelne tun, um den Wald zu schützen?
Ich bin kein Fan davon, die Verantwortung für den Schutz des Waldes auf Einzelpersonen abzuschieben. Es sind staatliche Aufgaben. Nichtsdestotrotz kann natürlich jeder einzelne etwas tun. Ein »Bitte keine Werbung«-Aufkleber am Briefkasten kann helfen, die Papierflut einzugrenzen. Weniger Fleisch essen hilft, weil überall auf der Welt Wälder gerodet werden, um Weideflächen oder Äcker für den Futtermittelanbau zu schaffen.
Ich nehme an, Sie sind Vegetarier.
Ja, seit viereinhalb Jahren. Dabei finde ich Fleisch total lecker. Ich verzichte darauf aus ökologischen Gründen. Ich will wirklich niemandem den Fleischkonsum verbieten. Aber wenn wir in Deutschland zum klassischen Sonntagsbraten zurückkehren würden, also nur noch ein Mal in der Woche Fleisch essen würden, könnten wir 50 000 Quadratkilometer, mehr als die Fläche Niedersachsens, bewalden und die deutsche Waldfläche um 50 Prozent erhöhen. Riesige Wälder könnten entstehen, es würde kühler und feuchter werden und mehr regnen. Der Fleischverzicht wäre dann kein Verzicht mehr, sondern ein Tausch gegen Kühle, Regen und mehr Naturerlebnisse direkt vor der Haustür.
Ihre Bestseller haben Sie reich gemacht. Was machen Sie mit dem ganzen Geld?
Das ist zwar eine sehr private Frage, auf die die meisten Menschen wahrscheinlich gar nicht antworten würden, aber ich mache es trotzdem. Ich habe eine gemeinnützige GmbH gegründet, die unter anderem gegen illegale Kahlschläge in Deutschland vorgeht. Der Großteil der Honorare fließt jedoch in Gebäude für die Waldakademie.
Was macht die?
In einem zehntägigen Seminar kann man sich hier zur zertifizierten Waldführerin oder zum zertifizierten Waldführer ausbilden lassen. Zudem bietet sie Walderlebnisse für Firmen und Privatpersonen an. Außerdem beraten wir Waldbesitzende, Unternehmen und Kommunen, wie sie Wald schützen und nachhaltig nutzen können, und arbeiten eng mit der Wissenschaft zusammen, um Forschung zu unterstützen und Wissen über den Wald zu vermitteln. Und es gibt ein Urwaldprojekt, in dem alte Laubwälder in Deutschland gepachtet und geschützt werden.
Die Prognosen zum Waldsterben in Ihrem neuen Buch »Waldwissen«, das am 26. April erscheint, sind wenig optimistisch. Gibt es noch Hoffnung?
Ja. Ich habe das Buch zusammen mit Professor Pierre Ibisch geschrieben, eben weil der Wald noch zu retten ist. Aber um zu wissen, wie es um ihn steht, muss man erst mal eine ehrliche und schonungslose Bestandsaufnahme machen. Ein wesentlicher Befund ist: Wenn wir weiterhin auf konventionelle Forstwirtschaft setzen, werden wir noch mehr Wald verlieren. Aber auch: Der Wald ist sehr wohl in der Lage, sich selbst zu regenerieren und an die veränderten klimatischen Bedingungen anzupassen – wenn wir ihn nur lassen.
Es ist noch nicht zu spät?
Nein! Aber wir müssen jetzt reagieren. Je früher wir auf die Bremse treten, desto kürzer wird der Rückweg.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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