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Neues Album von Yves Tumor: Bizzare Randgruppe
Yves Tumors neues Album ist ein Grenzgänger
Alles war irgendwie unschuldiger damals. Wann war das eigentlich? Für Funny van Dannen war es, als Willy Brandt Bundeskanzler war. Für andere wiederum (sagen wir, weiße Westdeutsche) war es in den 90ern: Mauerfall, Techno und aufblasbare Plastiksessel. Je nach biografischem Hintergrund kann es auch in den Nullerjahren gewesen sein: Punk wurde mit Blink 182 zu Pop, Rap wurde mit Outkast zu sehr viel besserem Pop, Metal wurde mit Marilyn Manson und Lidschattenbands wie HIM oder The Rasmus auch zu Pop, und alles lief bei MTV und Viva, die als ARD und ZDF der Popkultur fungierten.
Dieses Gefühl kommt beim Hören von Yves Tumors Album »Praise A Lord Who Chews But Which Does Not Consume (Or Simply: Hot Between Worlds)« auf. Nicht so sehr, weil Tumor sich auf eine klangliche Reise in die Vergangenheit begeben hätte, sondern eher, weil hier so gekonnt die Grenzen zwischen Genres verflüssigt, verschiedenste Materialien eingeschmolzen werden und alles in rundum gelungene Popsongs gegossen wird.
Im Gegensatz zum Pop der Nullerjahre, der letztlich nur unterschiedliche Stile mit der gleichen Soundsoße übergoss, gibt es hier eine echte Vereinigung, eine in unterschiedlichen Farbtönen glitzernde Homogenität. Diese Formulierung ist durchaus keine leere Phrase. Während man den Sound vieler Alben auf ein einziges durchgehendes Geräusch reduzieren könnte, ist »Praise A Lord …« klanglich ungeheuer abwechslungsreich. Gitarren spielen hier eine wichtige Rolle, aber Rockmusik ist das kaum, da sich die Songs in tippelnden Tanzschritten vorwärtsbewegen und nicht in wuchtigem Stampfen.
Trotz aller Tanzbarkeit ist es aber auch keine Dance Music, weil Tumor eindeutig Songs mit Strophe und Refrain schreibt und keine Tracks. Tumor arbeitet mit Instrumenten, aber deren Klänge sind meist so stark verzerrt und effektbeladen, wie Tumor geschminkt ist. Vielleicht gelingt diese Verschmelzung deswegen so gut, weil Yves Tumor sie als nichtbinäre Person konsequent verkörpert. Uneindeutig sind auch die Texte, wie schon der umständliche Albumtitel zeigt. Was soll das bedeuten, und was hat es mit diesen Relativpronomen auf sich? Na ja, »Inhalte überwinden« war ja auch so eine Losung der Nullerjahre.
Eine eindeutige Antwort aber hat Yves Tumor, das größte Pop-Chamäleon seit Prince, auf drängende Fragen unserer Zeit: »Die Gesellschaft zerfällt in partikulare Identitäten, die jeweils nur ihr eigenes Interesse verfolgen! Wo bleibt da der Gemeinsinn, ojemine? Wo sollen die normalen Leute hin, oh weh, oh weh?« Bitte schön: auf die Tanzfläche! Denn Yves Tumor gelingt es wie wohl niemandem seit Soft Cell mit »Tainted Love«, Musik zu machen, die dem Feuerwehrmann wie dem queeren Glitzerpublikum, der Hausbesetzerin und der Gebäudereinigerin gleichermaßen Lust macht, sich auf der Tanzfläche in etwas zu verwandeln, das sie (noch) nicht sind.
Heiß zwischen den Welten, auf zu neuen Ufern: Dieses Album sollte auf dem nächsten Parteitag der Linkspartei gespielt werden. Denn anders als bei bunten Abenden auf Klassenfahrten in den Nullerjahren, bei denen erbittert darum gestritten wurde, wer die nächste CD einlegen und damit einen anderen Teil der Klasse nerven durfte, gelingt hier Einheit in der Vielfalt.
Yves Tumor: »Praise A Lord Who Chews But Which Does Not Consume (Or Simply: Hot Between Worlds)« (Warp)
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