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»Ibiza«: EU-weite Willkürjustiz durch Wiener Staatsanwaltschaft
Wie Fahnder aus Österreich die europäische Rechtshilfe überdehnt haben
Vergangene Woche hat das Magazin Correctiv das erste Interview veröffentlicht, das Julian Hessenthaler in Freiheit geführt hat. Den Privatdetektiv halten Behörden aus Österreich – bislang ohne Beweis oder Verurteilung – für den Produzenten des sogenannten Ibiza-Videos. 2019 haben die »Süddeutsche Zeitung« und der »Spiegel« heimlich aufgenommenes Filmmaterial veröffentlicht, das den damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache und einen engen Vertrauten bei einem Treffen mit einer angeblichen russischen Oligarchen-Nichte auf Ibiza zeigt. Weil der Politiker dabei Gefälligkeiten für Geld versprach und hierfür Medienhäuser einspannen wollte, musste er zurücktreten. Auch die Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ zerbrach an der Korruptionsaffäre.
Die Festnahme Hessenthalers erfolgte in Berlin, auch seine Auslieferung nach Österreich wurde unter einem grün-geführten Justizministerium in der Hauptstadt beschlossen. Möglich ist dies über Vereinbarungen zur Rechtshilfe auf EU-Ebene. Als schärfstes Schwert der grenzüberschreitenden Unterstützung gilt die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA), mit der die Behörde eines Landes (»Anordnungsstaat«) Maßnahmen bei einem anderen EU-Mitglied (»Vollstreckungsstaat«) verlangen kann. Im Fall »Ibiza« wurde dieser Rechtsrahmen von der eigens für die »Ibiza-Affäre« gegründeten Sonderkommission (Soko) »Tape« gehörig überdehnt, wenn nicht sogar missbräuchlich angewandt. Das geht aus Akten hervor, die dem »nd« vorliegen. Deutlich wird außerdem, mit welchen Überwachungsmethoden die Polizei heutzutage arbeitet.
Die Soko »Tape« aus Österreich ermittelte nicht nur gegen Hessenthaler. Im Fokus standen auch die angebliche Oligarchen-Nichte, die sich als »Alyona Makarov« vorgestellt hatte, sowie weitere Helfer und auch Trittbrettfahrer. Für ihre Ermittlungen haben die Behörden zunächst das übliche Inventar genutzt: Zeugenvernehmung, Öffentlichkeitsfahndung mit Gesichtsbild, Abgleich von DNA-Spuren, Suche im Umfeld der Verdächtigen, Abfragen bei Hotels und in Kennzeichenerfassungssystemen wie etwa am Flughafen Wien. Mit weiteren Beschlüssen wurden über das Kontoregister Bankgeschäfte der Beschuldigten und Verdächtigen ausgeforscht, Anordnungen zur Herausgabe von Personendaten ergingen auch an Zahlungsdienstleister wie Moneygram und Western Union.
Die Lichtbilder von »Makarov« haben die Fahnder mithilfe eines »Gesichtsfelderkennungssystems« des Bundeskriminalamts (BKA) zunächst erfolglos in heimischen Datenbanken gesucht. Eine weitere Anfrage zum Abgleich erging über das BKA-Verbindungsbüro an die Polizeiagentur Europol. Via Interpol erfolgte ein solches Ersuchen außerdem an die Polizei in Russland, der Ukraine, Belarus sowie mehrere Balkan-Staaten, alles ohne Erfolg. Aus den von der angeblichen Oligarchen-Nichte genutzten Telefonen konnte laut den Akten »ein Bezug zu den baltischen Staaten festgestellt werden«, deshalb wurden weitere Anfragen auch an die Polizei in Estland, Lettland und Litauen gerichtet. Überall gab es jedoch »negative Rückmeldungen«.
Erfolgreicher war die Soko »Tape« bekanntlich im Fall Hessenthaler, der als »vermuteter Hintermann des Ibiza-Videos« auch in Deutschland überwacht wurde. Allerdings ist die Herstellung und Verbreitung eines Enthüllungsvideos wie in der »Ibiza-Affäre« nach deutscher Rechtslage nicht strafbar. Dies hatte der Generalstaatsanwalt in Hamburg in einer Einschätzung bestätigt und die gewünschte Überwachung in Deutschland auf Grundlage einer EEA deshalb abgelehnt. Die Fahnder aus Österreich behalfen sich aber mit einem Kniff: Hessenthaler wurde auch wegen eines fingierten Vorwurfs der Erpressung sowie gewerblichen Handels mit Kokain gesucht, und dafür greift die Ermittlungsanordnung. Ohne diese beiden Vorwürfe wäre es den Behörden nicht möglich gewesen, im europäischen Ausland tätig zu werden, hatte Hessenthaler in einem Untersuchungsausschuss des Parlamentes in Österreich zur »Ibiza-Affäre« zu Protokoll gegeben.
So richtete die Staatsanwaltschaft Wien eine EEA zur Überwachung von Hessenthalers Telekommunikation an den Leitenden Oberstaatsanwalt in München. Hinsichtlich der Erstellung und Verbreitung des Ibiza-Videos wurde diese grenzüberschreitende Anordnung abgelehnt, zu »Erpressung« und »Suchtgifthandel« allerdings bewilligt. Die Soko »Tape« erhielt daraufhin über das Bayerische Landeskriminalamt Verkehrs- und Standortdaten zu Telefonen, die Hessenthaler in Deutschland genutzt haben soll. Die Ausleitung der Inhaltsdaten erfolgte auf direktem Wege, wie aus einer von der Wiener Bürgerrechtsorganisation epicenter.works veröffentlichten Anordnung hervorgeht.
Allerdings wussten die österreichischen Ermittler nicht, welche deutschen Telefonnummern Hessenthaler überhaupt genutzt hat. Deshalb erließ die Wiener Staatsanwaltschaft im Auftrag des dortigen BKA zusätzliche Anordnungen zur Funkzellenauswertung in Deutschland. Auf diese Weise können nachträglich in einer bestimmten Gegend die bei einem Funkmast eingebuchten Handys festgestellt werden, dabei gerieten vermutlich Hunderttausende weitere Geräte von Unbeteiligten ins Raster der Behörden. In Echtzeit ist eine solche Feststellung von in der Nähe befindlichen Telefonen auch mithilfe sogenannter IMSI-Catcher möglich, auch dafür hat es den Ermittlungsakten zufolge EEA’s an deutsche Behörden gegeben.
Auch Mietwagen, die Hessenthaler in Deutschland benutzt haben soll, wurden mithilfe der Funkzellenauswertung überwacht. Dazu verfolgen Behörden die Spuren von in den Fahrzeugen eingebauten SIM-Karten, über die Kunden etwa Navigations- und Internetdienste sowie Notfallsysteme nutzen. Hessenthaler soll unter anderem einen BMW bei Sixt angemietet haben und damit in Österreich, der Schweiz und Deutschland unterwegs gewesen sein. Über die Auswertung der SIM-Karte dieses Fahrzeugs konnten die Fahnder ein nachträgliches Bewegungsprofil erstellen.
Sind den Behörden die IMSI- und IMEI-Gerätenummern der Fahrzeuge bekannt, können diese sogar über eine Standortpeilung in Echtzeit verfolgt werden. Die Ermittler aus Österreich kannten aber zunächst nur das Kennzeichen des Fahrzeugs. Aus diesem Grund wollte die Wiener Staatsanwaltschaft über eine zusätzliche EEA die »Vernehmung eines informierten Vertreters von BMW AG« erreichen und hat dazu die »unverzügliche Umsetzung« verlangt. Aus einem Schreiben in den Ermittlungsakten geht hervor, dass die Abteilung »Vehicle Crime« von BMW die Telekom-SIM-Daten des Fahrzeugs schließlich per Mail an das österreichische BKA herausgegeben hat. So wurde beispielsweise eine Fahrt Hessenthalers von Österreich nach Deutschland verfolgt. Das Fahrzeug wurde auch in Berlin überwacht, wo Hessenthaler etwa in der Nähe der Kanzlei seines Anwalts Johannes Eisenberg in Kreuzberg geparkt hatte.
Die in den Ermittlungsverfahren Beschuldigten oder Verdächtigen haben verschiedene Flugreisen unternommen, darunter auch nach Ibiza. Die Wiener Staatsanwaltschaft hat deshalb von insgesamt 87 in Österreich tätigen Fluglinien Passagierlisten zu Flügen verlangt, die von den betreffenden Personen vom 1. Januar 2017 bis 18. Mai 2019 gebucht wurden. Allein im Fall Hessenthaler wurden über EEA’s auch in Deutschland die Herausgabe von Daten »aller weltweit gebuchten und angetretenen Flüge des Beschuldigten Hessenthaler« für diesen zweieinhalbjährigen Zeitraum angeordnet, darunter bei der Lufthansa in Köln und bei Eurowings. Sollten solche Flüge ermittelt werden, begehrte die Wiener Staatsanwaltschaft die vollständigen Passagierlisten. Vorher hatten die österreichischen Ermittler bei Eurowings auf dem kurzen Dienstweg um Übermittlung gebeten, die Firma bestand jedoch auf einer offiziellen Anordnung.
»Es gab nach meiner Erinnerung um die 20 EEA’s, darunter auch zu Hausdurchsuchungen und Observationen«, sagt Anwalt Eisenberg zum »nd«. Die Zahl scheint realistisch, denn allein die Staatsanwaltschaft München erhielt nach eigener Auskunft »etwas über zehn Rechtshilfeersuchen«, die das Verfahren gegen Hessenthaler betrafen. Einige davon finden sich auch in einer Sammlung auf der Webseite von epicenter.works. Neben Deutschland wurden EEA’s auch an Behörden in Spanien oder in der Schweiz gerichtet.
Eisenberg kritisiert, dass die von einer EEA Betroffenen gegenüber dem ersuchten Staat »praktisch kein Rechtsmittel wirksam anbringen« können. »In Österreich hat die Justiz in rechtsbeugerischer Weise nahezu sämtliche Rechtsmittel hintertrieben«, so der Anwalt. »Ähnlich wie im Falle Julian Assange erweist sich diese Art der europäischen Zusammenarbeit als Einfallstor für eine nationale Willkürjustiz in europäischen Rechtsordnungen.«
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