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Schnüffelei in guter Verfassung
Brandenburgs Geheimdienst startete vor 30 Jahren mit einem Dutzend Mitarbeitern – jetzt sind es rund 130
Es geht eine Treppe hinunter ins Untergeschoss. Dort ist die Anmeldung. Drei Schritte dahinter hat sich am Donnerstagabend Jörg Müller postiert, um die Gäste mit Handschlag willkommen zu heißen. Er hört, nah am Tresen stehend, die Namen der Gäste und kann sie so gleich persönlich ansprechen, selbst wenn er einige der Leute bis dahin gar nicht von Angesicht kennt. Dieses geschickte Ablauschen der Familiennamen passt irgendwie zu Jörg Müllers beruflicher Tätigkeit. Denn er leitet seit 10. Februar 2020 im brandenburgischen Innenministerium die Abteilung 5. Klingt harmlos. Aber damit ist er Chef des Verfassungsschutzes.
Im April 1993 hatte der Landtag das Verfassungsschutzgesetz verabschiedet. Sein 30-jähriges Bestehen feierte der Geheimdienst nun am Donnerstagabend dieser Woche mit einem Symposium in der Investitionsbank des Landes Brandenburg in Potsdam. Mit einem Dutzend Mitarbeitern hat es einst angefangen. Schrittweise erhielt der Verfassungsschutz mehr Personal. Inzwischen sind rund 130 Menschen in Abteilung 5 beschäftigt – die bezahlten Spitzel nicht mitgerechnet, besser bekannt als V-Leute, was so viel bedeutet wie Vertrauens- oder Verbindungsleute.
Spätestens mit den Spitzeln beginnen die Probleme. Nur ein Beispiel: Unklar ist bis heute, ob der Blumenhändler Enver Şimşek, der Schlüsseldienstmann Theodoros Boulgarides, die Polizistin Michèle Kiesewetter und die anderen sieben Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) noch leben könnten. Mit Blick auf den brandenburgischen Verfassungsschutz ist dabei die Frage entscheidend, ob er sie mit auf dem Gewissen hat, weil er Hinweise seines Spitzels »Piatto« auf das untergetauchte NSU-Trio nicht rechtzeitig an die richtigen Stellen weitergab.
Da die Staatsanwaltschaften fünf Deckblattmeldungen mit erheblichen Auskünften von »Piatto« im Jahr 1998 nicht erhielten, sei die Ergreifung des NSU-Trios und seines Unterstützungsnetzwerkes »zumindest erschwert worden«, urteilte der Landtagsabgeordnete Volkmar Schöneburg (Linke), als im Jahr 2019 der Abschlussbericht des Brandenburger NSU-Untersuchungsausschusses vorgelegt wurde.
Das sollte im Hinterkopf sein, wenn Innenminister Michael Stübgen (CDU) am Donnerstag erklärt, mit dem Verfassungsschutz fühle er sich sicher. Stübgen lobt die Verbote von acht rechten Vereinigungen, die der Verfassungsschutz seit 1995 angeregt hat. »Neben solchen Erfolgen gab es aber auch bittere Rückschläge«, räumt der Minister ein. Dazu zählt er die NSU-Morde, bei denen alle Sicherheitsbehörden versagt hätten – auch der Verfassungsschutz.
Dennoch gratuliert Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) zum 30. Geburtstag. Er ist selbst mal der Oberboss des Verfassungsschutzes gewesen – in den Jahren 2010 bis 2013. Damals war er Innenminister. Woidke sieht zwar durchaus Anlass für eine auch kritische Bilanz: »Was haben wir gut gemacht? Welche Fehler gab es?« Entschuldigend fügt er aber hinzu, der Verfassungsschutz habe »immer stark unter Druck« gestanden bis hin zu der Forderung, ihn abzuschaffen. Für den Ministerpräsidenten kommt das überhaupt nicht infrage. »Als Partner und moderner Dienstleister für unsere Gesellschaft steht der Verfassungsschutz für Aufklärung, Information und präzise Lageeinschätzungen«, lobt Woidke. »Für unsere Sicherheitsarchitektur ist er ein unverzichtbarer Bestandteil.«
Das sieht die oppositionelle Landtagsabgeordnete Marlen Block (Linke) anders. »Um die Verfassung zu schützen, dafür brauchen wir den Verfassungsschutz nicht«, hatte sie bereits am Dienstag erklärt. Über rechte Strukturen vor Ort wisse die Zivilgesellschaft oft besser Bescheid.
Den Finger in die Wunde legt der Journalist Frank Jansen. Er hat den ersten Verfassungsschutzbericht von 1993 aufgehoben und zitiert aus der damaligen Fehleinschätzung, Verbote könnten die rechte Szene langfristig schwächen. »Ja, nix ist«, kommentiert Jansen enttäuscht. Es hätten sich immer wieder neue Organisationen gebildet. Ebenfalls als Illusion stellte sich heraus, dass die damals dürftigen Wahlergebnisse rechter Parteien erwarten ließen, diese bekämen nie Einfluss im Parlament. »Nicht falsch verstehen«, sagt der Journalist. Er habe auch gehofft, die neofaschistischen Gewaltexzesse der frühen 90er Jahre seien nur eine vorübergehende Periode und der Rechtsextremismus werde sich »herunterdimmen« lassen. »Ich lag auch falsch«, bedauert der Experte. »Wir müssen befürchten, dass die AfD möglicherweise doch über die 25 Prozent hinauskommen und die Machtfrage stellen kann.«
Jansen war froh, als 1993 ein Verfassungsschutz gebildet wurde. Denn nun hatte er nach eigener Einschätzung einen kompetenten Ansprechpartner für seine Recherchen zur rechten Szene. Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD) habe ihm damals vorgeworfen, das Problem aufzubauschen. Er hatte den Eindruck, sie habe die Verfassungsschutzberichte nicht gelesen. Und Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) habe bis zur Jahrtausendwende gebraucht, um nachträglich einzuräumen, er habe es nicht wahrhaben wollen.
Für den aktuellen Verfassungsschutzchef Müller ist der Geheimdienst das Frühwarnsystem. Aus den übermittelten Erkenntnissen müsse die Politik ihre Schlussfolgerungen ziehen und handeln.
Alle Warnungen vor der AfD fruchten jedoch offenkundig wenig. Die Einstufung der AfD als Verdachtsfall für rechtsextremistische Bestrebungen und jüngst ihrer Jugendorganisation als erwiesen rechtsextrem sind für die Partei eher ein Ritterschlag. Die Wähler in Ostdeutschland interessiere das wenig, weiß Tom Mannewitz vom Zentrum für Nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung in Berlin. Doch er sagt: »Davon sollten wir uns nicht leiten lassen. Der Verfassungsschutz muss die Öffentlichkeit informieren.«
Für diese Dienstleistungsfunktion stand Winfriede Schreiber, die von 2004 bis 2013 Brandenburger Verfassungsschutzchefin war und bei allen Vorbehalten gegen den Geheimdienst an sich einen tadellosen Ruf genießt. Schreiber sitzt am Donnerstag unter den Gästen des Symposiums und erhält Applaus, sobald ihr Name fällt. Was die personellen und sonstigen Ressourcen betrifft, sagt ihr Nach-Nach-Nachfolger Jörg Müller nicht unzufrieden: »Wir sind so aufgestellt, wie wir uns aufstellen konnten.« Er findet: »Wir müssen uns auch trauen, das schärfere Schwert der wehrhaften Demokratie zu nutzen.«
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