Streiken – eine Sache der Minderheit

WSI-Arbeitskampfbilanz 2022: Jeder Sechste hat schon mal die Arbeit niedergelegt. Im Ausland teils deutlich mehr Ausfalltage

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Elf Wochen dauerte der erfolgreiche Erzwingungsstreik der Beschäftigten an sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen im Frühsommer 2022. Am Ende konnten Entlastungstarifverträge für das Krankenhauspersonal erreicht werden. Auch wurde durch die Begleitung der Tarifverhandlungen durch einen aus Stationsdelegierten zusammengesetzten Rat ein umfassendes Beteiligungsmodell in der Fläche erprobt und der Arbeitskampf an der Basis verankert.

Auch streikten vergangenes Jahr erstmals seit über 40 Jahren wieder die Hafenarbeiter*innen der deutschen Seehäfen und erreichten — für Tarifverträge hierzulande ungewöhnlich — eine Inflationsklausel. Diese sieht einen automatischen Inflationsausgleich bis 5,5 Prozent vor und enthält für höhere Inflationsraten eine Verhandlungspflicht inklusive Sonderkündigungsrecht.

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Trotz dieser und anderer teils mit innovativen Zielen und Methoden geführten Tarifauseinandersetzungen war 2022 hinsichtlich der Häufigkeit und Intensität von Arbeitsniederlegungen ein durchschnittliches Jahr. Zu diesem Schluss kommt das Autor*innenteam des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in der am Donnerstag veröffentlichten Arbeitskampfbilanz 2022.

Danach nahmen in Deutschland im vergangenen Jahr rund 930 000 Beschäftigte an insgesamt 225 Arbeitskämpfen teil. Dadurch fielen laut den Berechnungen des WSI 674 000 Arbeitstage aus. Damit fiel das Streikgeschehen etwas stärker aus als noch im Vorjahr, in dem es 221 Arbeitskämpfe mit 909 000 Streikenden und 596 000 Ausfalltagen gegeben hatte. Im Längsschnittvergleich der WSI-Daten bewegt sich das Streikgeschehen 2022 im Mittelfeld.

Die große Mehrzahl der Arbeitsniederlegungen hatte im vergangenen Jahr Auseinandersetzungen um Tarifverträge in einzelnen Firmen oder Konzernen zum Inhalt, das Gros der Ausfalltage und die Menge der Streikenden ergaben sich hingegen aus den großen branchenweiten Tarifauseinandersetzungen, etwa in der Metall- und Elektroindustrie. Der Dienstleistungssektor verzeichnete mit 52 Prozent die Mehrzahl der Arbeitskämpfe. Besonders streikfreudig zeigte sich die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). In Relation zur Mitgliederzahl war die NGG am häufigsten in Streiks involviert, wenngleich auf sie nur 13 Prozent der Arbeitskämpfe entfielen.

Im aktuellen Bericht wurden erstmals auch Daten zur Streikerfahrung von Beschäftigten erhoben. Demnach haben 17 Prozent der Befragten bereits an Arbeitsniederlegungen teilgenommen, mehr als die Hälfte davon bereits mehrmals. Streiken ist dabei vor allem eine Angelegenheit von gewerkschaftlich Organisierten. Gewerkschafter*innen gaben zu 49 Prozent an, in ihrem Berufsleben bereits gestreikt zu haben. Dagegen stehen elf Prozent der Nichtmitglieder mit Streikerfahrung. Auch zwischen verschiedenen Branchen bestehen deutliche Unterschiede. So gaben 28 Prozent der Befragten aus dem Bereich Verkehr und Logistik an, bereits gestreikt zu haben. Auch in der gut organisierten Energie- Wasser und Bergbaubranche war der Anteil mit 25 Prozent überdurchschnittlich. Im nur schwach organisierten Gastgewerbe lag der Wert hingegen bei gerade einmal sechs Prozent.

Die Streikteilnahme gehöre als Ausnahmesituation durchaus zum Berufsleben einer beachtlichen Minderheit von Beschäftigten in Deutschland, so die Autor*innen. Auch stellen Streiks laut Thorsten Schulten, Koautor der Studie und Leiter des WSI-Tarifarchivs, »ein normales Instrument der Konfliktregulierung dar, ohne das die Tarifautonomie nicht funktionieren würde«.

Tatsächlich dominierten in Deutschland Warnstreiks. Eine Eskalation im Tarifkonflikt stellte die absolute Ausnahme dar. Insgesamt zählt die Bilanz für 2022 sieben Erzwingungsstreiks, von denen mit Ausnahme derer an den nordrhein-westfälischen Unikliniken alle auf Firmenebene stattfanden.

Der Blick ins Ausland zeigt, dass Deutschland in Sachen Streikgeschehen im unteren Mittelfeld rangiert. Im Ausland, beispielsweise in Frankreich oder Belgien, fallen deutlich mehr Arbeitstage aus. »Insgesamt ist Deutschland immer noch ein relativ streikarmes Land mit einem vergleichsweise restriktiven Streikrecht« stellen die Autor*innen der Studie fest. So gelten etwa politische und verbandsfreie Streiks hierzulande als illegal.

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