Streiks sind weiter wahrscheinlich

Trotz der Tarifeinigung im öffentlichen Dienst wird es verstärkt zu Arbeitskämpfen kommen

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 9. März standen die Zeichen noch auf Streik. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi das Ergebnis ihrer Urabstimmung bei der Deutschen Post: 85,9 Prozent der befragten Mitglieder votierten für einen unbefristeten Streik. »Das Ergebnis der Urabstimmung zeigt die Entschlossenheit unserer Mitglieder, für ein gutes Tarifergebnis zu kämpfen«, sagte damals Verdi-Verhandlungsführerin und Vizevorsitzende Andrea Kocsis. Zugleich hatte ihre Gewerkschaft auch die Beschäftigten von Bund und Kommunen schon seit einem Monat immer wieder zu Warnstreiks aufgerufen. Auch unter ihnen wurde laut über einen unbefristeten, »richtigen« Streik nachgedacht. Es wäre der erste unbefristete Streik im öffentlichen Dienst seit 1992 gewesen. Es sah so aus, als werde 2023 zu einem Jahr des Streiks.

Mittlerweile scheint die deutsche Arbeitswelt jedoch wieder befriedet zu sein. Nach der Urabstimmung bei der Deutschen Post lud die Konzernspitze Verdi schleunigst zu einer neuen Verhandlungsrunde, in der man sich doch noch auf einen neuen Tarifvertrag einigte. 61,7 Prozent der befragten Verdi-Mitglieder bei der Post stimmten schließlich dem Verhandlungsergebnis zu.

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Auch im öffentlichen Dienst ist streikmäßig wieder die Luft raus. Verdi einigte sich vergangenes Wochenende mit Bund und Ländern auf einen neuen Tarifvertrag. Der sieht eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung von 1240 Euro im Juni vor, von Juli bis Februar 2024 sind es noch einmal jeweils 220 Euro pro Monat. Ab März 2024 steigen die tariflichen Entgelte dann um einen monatlichen Sockelbetrag von 200 Euro brutto sowie 5,5 Prozent. Mindestens sollen die Beschäftigten dadurch monatlich 340 Euro brutto mehr bekommen. Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 24 Monate.

Die Tarifparteien einigten sich damit letztlich auf den Vorschlag der Schlichter, die von den Arbeitgebern angerufen worden waren, nachdem Verdi die Tarifverhandlungen für gescheitert erklärt hatte. Der neue Tarifvertrag muss noch von den Verdi-Mitgliedern angenommen werden. Doch deren Begeisterung hält sich in Grenzen. »Die Einigungsempfehlung der Schlichtungskommission ist leider nicht ausreichend. Eine Annahme der Empfehlung würde die Personalflucht aus dem öffentlichen Dienst nicht stoppen und die Probleme weiter verschärfen«, hieß es etwa in einer Resolution der Versammlung der Berliner Team- und Streikdelegierten der öffentlichen Betriebe im Vorfeld der entscheidenden Verhandlungsrunde.

Für eine Berliner Krankenpflegerin, die nicht namentlich genannt werden will, ist der Abschluss eine »absolute Frechheit«. Was sie besonders aufregt: dass ihr und ihren Kolleg*innen der Inflationsausgleich als Lohnerhöhung verkauft werde. »Das Geld fehlt einfach. Ich habe gestern fünf Sachen für einen Salat gekauft, und schon waren 30 Euro weg«, erzählt sie.

So entpuppt sich die steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Rahmen der konzertierten Aktion mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vergangenen Herbst auf den Weg gebracht hatte, als Bärendienst für die Beschäftigten. Denn nimmt man die Inflation im vergangenen, diesem und nächstem Jahr zusammen, so gleicht die Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst die Teuerungsrate nicht aus.

Verdi war deswegen eigentlich auch gegen die Idee der Inflationsausgleichszahlungen, die von DGB-Chefin Yasmin Fahimi mitgetragen wurde. Doch nun stehen sie sowohl bei der Deutschen Post als auch im öffentlichen Dienst in den neuen Tarifverträgen. Hat die Gewerkschaft also ihre Mitglieder verprellt, indem sie sich auf den Deal mit Bund und Kommunen einließ?

»Meiner Meinung nach war da noch Luft nach oben. Wir sind es wert«, sagt die Berliner Krankenpflegerin. Wenn man Stärke gezeigt hätte und in den unbefristeten Streik gegangen wäre, hätte man mehr rausholen können. »Selbst wenn es nur 0,5 Prozent gewesen wären.« Sie wisse zwar auch, dass es Kolleg*innen gebe, die den Abschluss gut finden, doch je mehr man in die Warnstreiks involviert gewesen sei, desto unzufriedener sei man mit dem Ergebnis.

Verdi-Angaben zufolge beteiligten sich eine halbe Million Beschäftigte an den Warnstreiks im öffentlichen Dienst. Für die Gewerkschaft hat sich der Arbeitskampf auch mitgliedermäßig ausgezahlt. Bis Ende März konnte sie im neuen Jahr über 70 000 neue Mitglieder verbuchen. Streiks haben also für Gewerkschaften nicht nur die Funktion, Tarifforderungen durchzusetzen, sondern sie organisieren auch die Beschäftigten, bringen neue Mitglieder.

Die Warnstreiks seien motivierend gewesen, erzählt auch die Pflegerin aus Berlin. Vor allem auf die jungen Kolleg*innen habe der Arbeitskampf großen Eindruck gemacht. Viele seien im Laufe der Warnstreiks dazugekommen. Teilweise seien es auch Kolleg*innen von Stationen gewesen, von denen man es nie gedacht habe. »Plötzlich waren da sechs Leute im Streik. Das war schon klasse«, erzählt sie.

Ein Problem für Verdi im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen jedoch ist, dass – anders als etwa bei der Post – ein Schlichtungsverfahren vorgesehen ist, wenn sich die Parteien zunächst nicht auf einen Tarifvertrag einigen können. Die Gewerkschaft konnte also nicht sofort die Urabstimmung zu einem unbefristeten Streik einleiten, nachdem sie die Verhandlungen für gescheitert erklärt hatte. Und in der Schlichtungszeit herrscht Friedenspflicht. Das heißt, die Gewerkschaft kann keine Warnstreiks durchführen. Die Mobilisierungsdynamik wird also unterbrochen. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, warum sich Verdi am Ende auf den Deal einließ. Innerhalb der Gewerkschaft ist die Schlichtungsvereinbarung umstritten, es gibt einige, die sie gern aufgekündigt sähen.

Ganz ruhig ist es mit dem Abschluss in der Arbeitswelt jedoch nicht geworden. Diese Woche rief Verdi in mehreren Bundesländern zu Warnstreiks im öffentlichen Nahverkehr auf. Die Eisenbahngewerkschaft EVG kündigte ebenfalls weitere Arbeitsniederlegungen an, nachdem auch die zweite Verhandlungsrunde mit der Deutschen Bahn gescheitert ist. Schließlich stehen weitere Tarifrunden noch an – etwa im öffentlichen Dienst der Länder. Auch die streikfreudige Lokführergewerkschaft GDL verhandelt im Herbst wieder über einen Tarifvertrag bei der Deutschen Bahn.

Bei all diesen Tarifauseinandersetzungen geht es um die Verteilung der Kosten der hohen Inflation. So stehen die Gewerkschaften unter besonderem Druck, möglichst hohe Tarife abzuschließen, um den Reallohnverlust der Beschäftigten zumindest zu minimieren. »Wir werden eine deutliche Zunahme der Arbeitskämpfe sehen«, prognostizierte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, diese Woche im ZDF-»Morgenmagazin«. Neben der hohen Inflation sieht er noch einen anderen Grund: die »Zeitenwende« auf dem Arbeitsmarkt, wie er es nennt, von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt. Denn der Fach- und Arbeitskräftemangel führt zu einer Kräfteverschiebung zugunsten der Angestellten.

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