- Politik
- Syrien
In Aleppo mangelt es an fast Allem
Die syrische Metropole ist durch Krieg und Erdbeben zerstört und verarmt, die Aufbauhilfe reicht nicht aus
Al Shaa‘ar liegt im Ostteil von Aleppo. Die Häuser stehen eng, ragen hoch hinaus. Die Fußwege sind mit Obst, Gemüse und anderen Produkten der Händler bedeckt. Wie bizarre Pflanzen ranken sich eng um einander gewickelte Stromkabel die Straße entlang.
Viele Häuser in Al Shaa‘ar sind ganz oder teilweise zerstört. Manche tragen Spuren des Krieges, andere vom Erdbeben Anfang Februar. Wieder andere Häuser wurden nach dem Erdbeben gesprengt, weil sie nicht mehr sicher waren. Während des Krieges in Aleppo zwischen 2012 und 2016 galt Al Shaa‘ar als Hochburg bewaffneter Gruppen, die – mit ausländischer Hilfe – die Regierung stürzen wollten. Heute gehen die Menschen müde durch ihr Viertel. Nach dem Krieg und nach dem Erdbeben haben sie nichts mehr zu verlieren. Der Mangel ist überall offensichtlich.
Jede Hilfe wird gebraucht
90 Prozent der syrischen Bevölkerung lebten unter der Armutsgrenze von einem US-Dollar am Tag. Neue Kriege und Krisen wie in der Ukraine oder im Sudan ziehen die internationale Aufmerksamkeit auf sich, die Menschen in Syrien und anderen Konfliktregionen werden zunehmend vergessen. Noch aber wird geholfen. Syrische und internationale Organisationen verteilen Kleidung, Medikamente, Grundnahrungsmittel und Hygieneartikel. Hinzu kommt psychosoziale Hilfe für die Menschen, die tief traumatisiert sind. Familien sind auseinandergerissen, Lebensperspektiven zerstört. Die Bewegungsfreiheit ist durch den Mangel an Benzin drastisch eingeschränkt. Es gibt Hunger und Armut.
Das Erdbeben löste in Syrien große Hilfsbereitschaft aus, berichtet der Ingenieur Mohamed Rafaat Chammah im Gespräch mit »nd«. Chammah ist der stellvertretende Vorsitzende der Industriekammer von Aleppo. Vor dem Gebäude kontrolliert er die Verteilung von Babymilchpulver an Bedürftige. Täglich würden bis zu 4000 Packungen verteilt, sagt er. Gespendet worden sei das Milchpulver von syrischen Geschäftsleuten und Personen, die im Ausland lebten. »Nach dem Erdbeben haben wir einen Aufruf verschickt, die Antwort war überwältigend.« Besonders groß sei die Hilfe bei syrischen Unternehmern in Ägypten gewesen, so Chammah. Von dort schickten syrische Industrielle Dialyse-Geräte für die Krankenhäuser.
Geld für Miete gesammelt
Mehr als 8 000 Menschen in Aleppo, Idlib, Hama und entlang der Mittelmeerküste zwischen Latakia und Tartus verloren bei dem Erdbeben ihr Leben, 225 000 wurden obdachlos. Nach offiziellen Angaben wurden in Aleppo und Latakia jeweils 16 Häuser wieder aufgebaut. Die Industriekammer von Aleppo sammelte Spenden, mit denen 900 Familien für anderthalb Jahre eine neue Wohnung mieten können. Doch noch immer ist die Not groß.
Am westlichen Stadtrand von Aleppo, in der Al Beyrouni–Grundschule, haben 49 Familien eine vorübergehende Bleibe gefunden. Von den 293 Menschen hier sind 76 Kinder über zwölf Jahre, die mit Unterstützung von UNICEF Schulunterricht erhalten. Ein Team aus Ärzten, Krankenschwestern und Psychologen versorgt die Menschen medizinisch und psychosozial. Besonders die Kinder und Jugendlichen leiden unter traumatischen Störungen. Der Jurastudent Abdul Nasser gehört zu den Freiwilligen der Syrischen Gesellschaft für die Gesundheit von krebskranken Kindern. »Wir haben unsere Kindheit an den Krieg verloren«, sagt er. »Nun leben wir in einer Wirtschaftskrise und verlieren unsere Jugend.« Er wisse nicht, ob er jemals ein »normales Leben« haben werde, heute sei es für ihn und seine Freunde selbstverständlich, zu helfen.
Provisorisches Wohnen in Jibreen
Etwa eine halbe Fahrstunde vom Zentrum von Aleppo entfernt liegt am Rande der Autobahn der Ort Jibreen mit seinen auffälligen Lagerhallen. Einst lagerte hier die Baumwolle aus dem Euphrat-Tal, bevor sie zur Weiterverarbeitung an die Textilunternehmen in Aleppo transportiert wurde. Seit der Nordosten Syriens und mit ihm auch die Baumwolle im Euphrat-Tal von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften, SDF und den US-Truppen kontrolliert wird, bleiben die Baumwollspeicher von Jibreen leer.
In Sichtweite der leeren Baumwollspeicher entstehen 500 provisorische Wohneinheiten, die auf 36 Quadratmetern einen Wohnraum, zwei Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad bieten. Eine Schule, ein Familienzentrum, ein Marktplatz und ein Krankenhaus sind geplant, erklärt ein junger Mann anhand eines Bauplans. Der provisorische Wohnort ist eine Spende von den Hasht as Shaabi, den Volksmobilisierungskräften aus dem Irak. Nach Hilfsgütern, die sie unmittelbar nach dem Erdbeben brachten, folgten die Bauteile für die provisorischen Wohneinheiten. Syrische Arbeiter zimmern die kleinen Bungalows zusammen. Im Mai sollen die ersten Familien einziehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.