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Als die Erde noch ein Baby war
Die Bletterbachschlucht in Südtirol erzählt Geschichte(n) in Stein
Blitzblank leuchtet der Himmel über dem Eggental. Für Hotelwirtin Carola in Eggen ist das ein vertrauter Anblick. In dem 20 Minuten von Bozen entfernten Eggental würden 300 Sonnentage im Jahr schönes Wetter geradezu garantieren. Mit 530 Kilometern Wanderroute sowie den Steinriesen Latemar, Rosengarten und Schlern bietet die Landschaft zudem ganz großes Bergkino.
- Geoparc Bletterbach: Geöffnet 23. April bis 31. Oktober. www.bletterbach.info
- Zur Einstimmung: Luca d’Andreas Drama
»Der Tod so kalt« spielt in der Bletterbachschlucht. Der als Hörbuch in der Verlagsgruppe Random House und als Buch im DVA-Verlag erschienene Kultkrimi kostet 14,99 Euro. - Weitere Infos: www.eggental.com
Vor dem Hotel steigt eine Wandergruppe die Stufen zur Dorfkirche hinunter, von der ein Linienbus zur Bletterbachschlucht fährt. Bald gibt das Fenster den Blick frei auf das schneeweiße Weißhorn. An der Westflanke des 2317 Meter hohen Wolkenkratzers entspringt der Bletterbach.
Vor dem Geoparc-Besucherzentrum in Aldein wartet Alexander. Ein prüfender Blick auf das Schuhwerk – alles okay! Schutzhelm auf und ab in die Vergangenheit! 100 Meter windet sich ein Waldpfad hinunter in das Freilichtmuseum. Woow! Turmhohe Wände aus sechs unterschiedlichen Gesteinsformationen, Geröll und Felsbrocken markieren den knapp 400 Meter langen Abschnitt durch die Erdgeschichte. Seit der letzten Eiszeit vor 15 000 Jahren hat sich der insgesamt acht Kilometer lange Bach beharrlich ins Gestein gefressen und mit einer imposanten Transportleistung einen in Europa einzigartigen Mini-Canyon geformt: Geschätzte zehn Milliarden Tonnen unterschiedliches Gestein wurden von der Kraft des Wassers Schicht für Schicht abgetragen, zu Sand zerrieben und in die Adria befördert. Auf der Suche nach versteinerten Resten von Flora und Fauna kommen seit 2004 jedes Jahr rund 50 000 Besucher in den prähistorischen Zoo der Dolomiten. Bis dahin war die Kluft nur waghalsigen Klettermaxen vorbehalten, die sich ihren Weg über alte Saumpfade und Gestrüpp überwucherte Pässe suchten.
Im Unterschied zu anderen Gebirgen seien die geologischen Schichten hier so erhalten geblieben, wie sie in Jahrmillionen abgelagert wurden, weiß Alexander. Schilder erzählen im Bachbett von der Geburt der Erde. Zum Beispiel von heftigen Vulkanausbrüchen, deren Glutwolken vor 280 Millionen Jahren das Gebiet von Südtirol bedeckten. Aus der abgekühlten Masse bildete sich eine 4000 Quadratkilometer große Plattform, auf deren Vulkankessel später auch Bozen gebaut wurde. Alexander hebt einen silbergrauen Stein in die Sonne: »Seht her«, zeigt er auf einen Abdruck: »Das ist das zig Millionen Jahre alte Zeugnis einer Muschel aus dem tropischen Urmeer.« Der Blick schweift über die Felswände oder sucht nach weiteren Zeitzeugen auf dem Klammgrund. Manchmal sind die Spuren einer Schnecke oder Pflanze dann wieder der Nachweis eines mit dem Tintenfisch verwandten Kopffüßers Lohn der Ausdauer. Ein paar Schritte weiter entdecken die Scouts Fährten von verschiedenen Saurierarten, die sich hier tummelten.
Ist das Sandstein? Der Experte nickt. Als träge Flüsse die Gegend durchzogen, lagerten sie Tonnen von Sanden und Kieseln ab, die von kalkigen Bindemitteln zusammengehalten wurden. Der immense Druck immer neuer Ablagerungen festigte die vorhandenen Schichten und ließ das neue Gestein entstehen. Eingeschlossenes Leben hinterließ seine Spuren und Strukturen. An einigen Stellen wirkt ein Fels freilich auch selbst wie ein erstarrtes skurriles Lebewesen und schaut grimmig auf die Eindringlinge herab. Flugs richten sich Kameras auf die durch Erosion geformten Gesichter. »Vorsicht Rutschgefahr! Die wackeligen Steine sind glatt«, warnt der Guide, als ein paar allzu Unbekümmerte meinen, eine Steilwand im Visier das zahme Bächlein überspringen zu können.
Nach zwei Stunden ist im sogenannten »Butterloch« der Talschluss erreicht. Von einer Felswand poltert der Bletterbach herab und verliert sich als Rinnsal zwischen Fels und Stein. Allerdings kann das scheinbar so harmlose Bächlein bei Unwetter zum reißenden Strom und zu einer tödlichen Falle werden. Wissenschaftler der Europäischen Weltraumorganisation (Esa), die hier Gesteinsproben mit Funden vom Mars vergleichen, wissen das ebenso wie Bozens Autor Luca d’ Andrea. In seinem Thriller »Der Tod so kalt« macht er die Bletterbachschlucht zum Schauplatz eines albtraumhaften Melodrams und setzt der Naturschönheit ein literarisches Denkmal.
Nach der Entdeckungstour zu den Naturoffenbarungen aus 220 Millionen Jahren geht es über einen 140 Meter hohen Treppensteig wieder hinauf zur Oberkante der Schlucht. Ein Weg, der nicht mal eben so im Hops zu nehmen ist und manch ungeübtem Wanderer den Schweiß auf die Stirn treibt.
Wie schön, dass Alexander nicht nur Wanderführer ist, sondern auch den schnellsten Weg zu einer Alm kennt. Eine kurze Tour, die sich jeder zutrauen darf, führt durch lang gestreckte Waldungen zur Petersberger Leger Alm. Hinter dem Gasthof zeichnet sich am Horizont die imposante Wallfahrtskirche des Klosters Maria Weißenstein ab. Auf der anderen Seite zieht der strahlende steile Weißhorn-Berg die Blicke auf sich.
Wer lieber im Tal bleibt, der lauscht jetzt Erzählungen von mysteriösen Gestalten aus alten Zeiten. Von sogenannten »Saligen« berichtet Alexander. Die naturverbundenen Frauen seien milde, oft sehr anmutig, aber menschenscheu gewesen. In Höhlen hätten sie gelebt, armen Bauern und gottesfürchtigen Menschen geholfen und Kranke gepflegt.
Während er seine Gruppe bittet, achtsam mit der Natur, mit jeder Pflanze und jedem Zweig umzugehen, erzählt er von seiner Großmutter. Deren Leidenschaft sei es gewesen, geheimnisvollen Rätseln nachzugehen. Besonders hatte es ihr die Geschichte von einer Räuberbande und einem reichen Kaufmann angetan, der mit Edelsteinen handelte. Bei ihren Nachforschungen sei Oma Anne jedoch plötzlich ums Leben gekommen. Bis heute wisse niemand genau, was damals in den verwachsenen, wilden Wäldern rund um die Bletterbachschlucht geschah.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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