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Campen für die Vergesellschaftung von Volkswagen
Im Rahmen der VW-Hauptversammlung fordern Klimaaktivisten, der Konzern solle lieber Straßenbahnen bauen
Wolfsburg am Freitagabend: Der Bahnhofsvorplatz sieht aus, als ob hier gleich eine Antifa-Demo beginnt. Viele Menschen mit Tattoos und Piercings, schwarze Jacken, Shirts mit politischen Botschaften. Mit dem Verkehrswendecamp, das ein paar Meter weiter auf einer Wiese gegenüber dem Zentralen Omnibusbahnhof stattfindet, haben sie nichts zu tun. Nein: »Team Scheiße« spielt in der Stadt. Verkehrswende? Finden die Fans der Punkband auch gut, schon allein um trinken zu können, sei so eine Bahn ja ganz praktisch, merkt einer an. Und für dieses Ziel ein paar Tage campen gehen und sich Vorträge anhören? Er schüttelt mit dem Kopf. Aber mal bei Fridays-for-Future-Demos mitlaufen oder Petitionen für mehr Radwege unterschreiben, das würde er machen, denn das sei ja wichtig.
Dass schon Menschen, denen das Thema Verkehrswende nicht fremd ist, sich wenig interessiert an intensiven Aktionen für dieses Ziel zeigen, deutet an, dass die Veranstalter*innen des Camps sich eine schwierige Aufgabe gestellt haben. Erst recht in Wolfsburg. Die Stadt, in Nazi-Deutschland als »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben« gegründet, steht wohl so sehr für die Automobilindustrie wie keine andere Stadt in Deutschland. Das 6,5 Quadratkilometer große Gelände des Volkswagen-Konzerns ist die flächenmäßig größte Fabrik in Europa. Bis zur Eröffnung von Teslas Giga-Factory nahe Austin im US-Bundesstaat Texas war es sogar das weltweit größte Fabrikgelände. Auch optisch dominiert VW das Stadtbild. Die Schornsteine des alten VW-Kraftwerks sind weithin zu sehen, das riesige Firmenlogo an dessen Fassade ist das erste, was Reisende sehen, die hier aus dem Zug steigen. Vor dem Bahnhof ist ein riesiger Parkplatz – natürlich einer für Mitarbeiter des Konzerns.
Ausgerechnet hier für die Verkehrswende und auch noch dafür werben, dass VW die Autoproduktion einstellt – das klingt schon ein wenig utopisch. Aber vor zehn Jahren hätte sich wohl auch kaum jemand vorstellen können, dass von der Abbaggerung bedrohte Dörfer im Rheinischen Kohlerevier erhalten bleiben und dass der Hambacher Forst oder Lützerath zu bundesweit bekannten Symbolen für das nahende Ende des fossilen Zeitalters werden.
Für den Kampf um große Ziele braucht es zupackende Menschen. Einer, der in Wolfsburg anpackt, ist Tobi Rosswog. Er ist Anfang 30, hat wuschelige Haare und lacht viel. Vor einem Dreivierteljahr haben er und andere Aktivist*innen, unterstützt von der Stiftung Freiräume, ein Haus in Wolfsburg gekauft. Das Reihenhaus im Amselweg 44 ist seitdem die Zentrale der Klimaaktivist*innen. Es soll ein offenes Haus sein.
Der Plan von Rosswog ist klar. »Ich bin für zwei Jahre nach Wolfsburg gekommen, um VW zur Verkehrswende zu bringen«, erzählt er. Zwei Jahre seien ein guter Zeitraum. Da könne man viel »reinpowern« und dann schauen, wo man steht. »Es ist mir ein großes Anliegen, hier reinzugehen in die Höhle des Löwen«, sagt Rosswog. Er hält es für gut, dass Impulse von außen kommen. Denn in Wolfsburg gebe es allerhand Seilschaften mit dem Autokonzern. Zum Beispiel sei der Vorsitzende des Naturschutzbundes Nabu in Wolfsburg im Nachhaltigkeitsmanagment von VW tätig.
Der Ansatz von Rosswog, der sich auf seiner Homepage als »freier Dozent, Speaker, Initiator, Autor und Aktivist« vorstellt, ist es, Gegebenheiten vor Ort radikal in Frage zu stellen. Mit viel Begeisterung erzählt er von den bisherigen Aktionen der Verkehrswende-Aktivist*innen in der Autostadt. So meldeten sie im vergangenen Herbst auf einer Fläche im Norden der Stadt, auf der Volkswagen eine neue Fabrik für das E-Auto-Projekt Trinity bauen wollte, ein Protestcamp an. Es wurde zum Stadtgespräch. Die Lokalpresse fragte bang, ob nun die »Autohasser« nach Wolfsburg kommen, die Behörden waren überfordert: »Versammlungsfreiheit kennt man hier nicht«, sagt Rosswog.
VW-Chef Oliver Blume habe den Aktivist*innen Mitte November dann »ein großes Geschenk« gemacht, indem er das Trinity-Projekt »beerdigte«. Die Software dafür wird nicht vor 2029 fertig, der Bau eines neuen Werks bis 2026 wurde damit unnötig: Trinity soll in das Stammwerk eingegliedert werden. Die Aktivist*innen feierten den Stopp des Bauvorhabens trotzdem.
Jetzt fordern die Camp-Veranstalter*innen, VW solle künftig nicht mehr für »Volkswagen«, sondern für »Verkehrswende« stehen. Im Werk könne man ganz wunderbar Straßenbahnen produzieren, glaubt Rosswog. Auch dafür wirbt man mit Kreativität. Vor einem der Werkstore bauten die Aktivist*innen einen Stand in der Optik von VW auf, verteilten Flyer mit Stellenangeboten für die Straßenbahnproduktion, die im nächsten Jahr anlaufen solle. Es sei wichtig, in einer Stadt die »seit 85 Jahren nur das Auto kennt«, das bislang Undenkbare denkbar zu machen. Durch solche Kommunikationsguerilla-Aktionen könne man »Narrative verschieben«, meint Rosswog.
»Richtig Spaß«, sagt er, habe er an den Reaktionen, die dergleichen hervorruft. In einer Lokalzeitung habe es einen großen Artikel mit der Überschrift »VW baut Straßenbahnen: Aktivisten fingieren Stellenanzeigen« gegeben. Insgesamt gebe es wegen der Anwesenheit der Aktivist*innen immer mehr Berichte, die sich kritisch mit Volkswagen auseinandersetzen und alternative Mobilitätskonzepte erwähnen. Das passt gut zur Vision von Rosswog und Mitstreiter*innen. »Wir brauchen eine Konversion, also einen Umbau von VW von der Automobil- zur Mobilitätsindustrie.« Dass dies nicht so profitabel wie der Bau von Autos wäre, ist Rosswog klar. Deswegen brauche es auch die Vergesellschaftung des Konzerns. Nicht ganz so weitgehend, aber in eine ähnliche Richtung gehen Forderungen der Grünen Jugend Niedersachsen, anlässlich der VW-Hauptversammlung an diesem Mittwoch. Das Land solle seinen Anteil am Konzern nutzen, um den Umbau zu einem Mobilitätskonzern voranzutreiben, fordert der Parteinachwuchs.
In Wolfsburg stößt diese Idee am Wochenende vor allem auf Desinteresse. Zum Verkehrswendecamp sind vor allem Linke aus ganz Deutschland gekommen. In Workshops sprechen sie über ganz unterschiedliche Themen: »Zirkus als Protestform«, »Wie starte ich in meiner Stadt ein freies Lastenradprojekt?« oder »Für ein Ende des automobilen Kapitalismus« lauten die Titel der Veranstaltungen. An einem großen Zirkuszelt hängt ein Transparent. »Straßenbahn statt Autowahn« steht darauf. Viele Passant*innen lesen die Zeilen, wirken etwas irritiert. Auch der eine oder andere abfällige Kommentar ist zu hören.
Warum das so ist? Es lässt sich gut leben in der Autostadt. Es gibt ein imposantes Kunstmuseum und mit dem Phaeno ein nicht minder beeindruckendes Wissenschaftsmuseum. Mit dem VfL und den Grizzlys leistet sich VW Erstligateams im Fußball und Eishockey. Zwischen der Innenstadt und dem VW-Werk gibt es ein großes Outlet-Center, in dem viele beliebte Marken Geschäfte haben.
Die Stadt wirkt ein bisschen wie ein Disneyland für Erwachsene. In einem Restaurant in der Innenstadt sitzt am Freitagabend eine etwa zehnköpfige Gruppe von VW-Facharbeitern. Einer von ihnen hatte vor wenigen Tagen Geburtstag. Verkehrswende? Nicht ihr Thema. Klar mache man sich Sorgen, sagt einer. Die Umstellung auf E-Autos werde zum Verlust vieler Arbeitsplätze führen. Der ehemalige VW-Chef Herbert Diess hatte vor zwei Jahren davon gesprochen, dass die Umstellung bei VW mit dem Abbau von bis zu 30 000 Jobs verbunden sei. In Wolfsburg, wo über 60 000 Menschen bei dem Autokonzern arbeiten, hat man solche Ankündigungen noch gut im Kopf. Und der Runde im Restaurant bereitet das größere Sorgen als der Klimawandel.
Schnell sprechen einige von »grüner Ideologie« oder der »Deindustrialisierung Deutschlands«. Hier in Wolfsburg spiegeln sich bundesweite Debatten wie in einem Brennglas. Mehr als 410 000 Menschen arbeiten hierzulande bei Autokonzernen, die Zahl derjenigen in der Zulieferindustrie ist noch einmal größer. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft und des Frauenhofer-Instituts IAO ist mehr ein Viertel der deutschen Städte und Kreise »besonders« von der Automobilwirtschaft geprägt. Es sind Gegenden, in denen die Produktivität überdurchschnittlich und die Arbeitslosigkeit unterdurchschnittlich sind.
Doch es gibt durchaus auch Beschäftigte der Autoindustrie, die andere Perspektiven entwickeln. Einer, der das getan hat und darüber im Verkehrswendecamp berichtet, ist Lars Hirsekorn. Seit 1994 arbeitet er bei VW in Braunschweig, zuletzt in der Stoßdämpferproduktion. Seit einem Jahr ist er, »obwohl ich es nie wollte«, im Betriebsrat. Er sei überredet worden. Mit dem Aufkommen von Fridays for Future habe er sich damit beschäftigt, »was das Auto eigentlich anrichtet«. Seine Schlussfolgerung: »Wir können uns den motorisierten Individualverkehr nicht mehr leisten.« Hirsekorn erzählt auch, dass er das in einer Rede bei einer Betriebsversammlung 2019 gesagt hat. Dafür habe er erstaunlich viel Zuspruch bekommen.
Viele Kolleg*innen, glaubt der Betriebsrat, würden verstehen, dass ein Weiter-so in eine Sackgasse führt. Alle merkten, dass die Einzelteile auch bei E-Autos immer größer und schwerer werden. Mit großen Autos ließen sich eben die größten Gewinnmargen erzielen. »Es gibt mehr Menschen, die für Alternativen offen sind, als es nach außen den Anschein hat«, ist sich Lars Hirsekorn sicher. Im kleinen Kreis würden die Menschen auch darüber diskutieren, was zu produzieren gesellschaftlich sinnvoll sei. Nicht sinnvoll sei, wie es derzeit laufe: Die Autoindustrie »sauge« Arbeitskräfte auf, die in anderen Bereichen dringender gebraucht würden, um »Unsinn« zu produzieren.
Bei Hirsekorns Gewerkschaft, der IG Metall, sieht man das mehrheitlich noch nicht so. Die Umstellung der Produktion vom Verbrenner auf den Elektromotor werde von der Gewerkschaft leider als »alternativlos« angesehen. Die Gewerkschaft habe jetzt zwar angekündigt, verstärkt über die Mobilitätswende diskutieren zu wollen. Im Endeffekt werde es dabei aber nur um E-Autos gehen, glaubt Hirsekorn. Es reiche ja, sich Interviews mit dem Gewerkschaftschef Jörg Hofmann dazu durchzulesen. Deren Aussagen seien kaum von denen der Volkswagen-Manager in Interviews kaum zu unterscheiden.
Um das Klima zu retten, muss der Druck also wohl woanders herkommen. Lars Hirsekorn freut sich über das Camp in Wolfsburg und über die Aktivitäten von Menschen wie Tobi Rosswog: »Es ist gut, dass die Bewegung für eine Verkehrswende herkommt und Alternativen aufzeigt.« Bis Wolfsburg allerdings zur Verkehrswendestadt wird, wird es wohl noch etwas dauern. Die zwei Jahre, die sich die Aktivist*innen aus dem Amselweg als vorläufige Frist gesetzt haben, werden höchstens reichen, um Denkanstöße zu geben.
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