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LGBTQ in der Türkei: »Sie bezeichnen uns als Perverse«
Die Istanbuler Drag Queen Ceytengri über queere Kunst und die LGBTQ-feindliche Politik der Regierung
Sie sind seit fünf Jahren in der Drag-Szene Istanbuls aktiv. Wie ist die aktuelle Situation?
Ceytengri ist 25 Jahre alt und lebt im Istanbuler Stadtteil Şişli. Sie identifiziert sich als genderfluide Person und arbeitet als multidisziplinäre queere Künstlerin. Als Musikerin produziert sie düsteren Techno, tritt ab und zu als Performance Artist auf, kuratiert Ausstellungen und modelt für Werbekampagnen. Aber vor allem steht Ceytengri als Drag Queen auf den Bühnen Istanbuls.
Wir haben damals eine queere Drag-Show organisiert, mit offener Bühne. Alle möglichen Leute kamen dorthin, trans Menschen, Lesben, Schwule – und längst nicht jede Person, die dort auftrat, war eine Drag-Künstlerin. Manche Leute sind einfach zu dieser Show gekommen, um sich einmal auszudrücken. Durch diese Diversität war das Umfeld sehr angenehm. Aber nach der Pandemie hat der Veranstaltungsort, an dem die Show stattfand, nicht wieder aufgemacht. Es gibt zwar immer noch Orte, an denen Drag performt wird, aber die sind nicht queer im Sinne von politisch. Die Drag-Szene hier ist monopolisiert.
Was ist das Problem an der heutigen Drag-Szene?
Das ist Entertainment für die Mittelklasse. Manchmal hetero, manchmal schwul – aber eben nicht queer. Themen wie trans Rechte werden nicht angesprochen. Wenn man eine politische Drag-Show machen will, eine Show, die über eine bloße Tanznummer hinausgeht, ist es in Istanbul heute absolut nicht leicht, den Raum dafür zu finden.
Dabei ist Drag doch eine recht populäre Kunstform in der Türkei. Angesichts der LGBTQ-feindlichen Rhetorik der Regierung wirkt diese Tatsache auf Außenstehende wie mich durchaus politisch.
Ja, die Leute hier lieben Drag Queens. Und allein der Gedanke von Drag, also der Geschlechterwechsel, all das ist für unser aktuelles politisches Umfeld durchaus fortschrittlich. Es hat in meinen Augen immer noch einen gewissen politischen Wert. Das stimmt. Aber wenn man etwas explizit Politisches in den Shows machen will, ist es schwierig.
Warum?
Ein Grund ist zum Beispiel die Angst vor Zensur. Erst vor wenigen Monaten sind wir in einem größeren Venue aufgetreten, das eher zum Mainstream gehört. Wir haben auf der Bühne ein bisschen gestrippt, aber nicht zu sehr. Keine Genitalien, nur ein bisschen Haut. Die Show wurde daraufhin sofort gestrichen, und zwar vom Veranstaltungsort. Und so ist es überall in der Gesellschaft: Netflix hat sich zum Beispiel entschieden, eine erfolgreiche Serie nicht weiterzuführen, weil die Regierung gefordert hatte, eine homosexuelle Figur aus dem Drehbuch zu nehmen. Wir leben in einem Zustand der Unterdrückung.
Welche Rolle spielt die wirtschaftliche Lage?
Die Löhne sind natürlich alles andere als gut. Und die Wirtschaftskrise macht es einem schwer, nur als Künstlerin zu leben. Man muss mehrere Jobs annehmen oder die Familie um Unterstützung bitten.
Sie sind 25 Jahre alt und haben den Großteil Ihres Lebens unter der AKP-Regierung verbracht, haben Recep Tayyip Erdoğan als Ministerpräsident erlebt, jetzt als Staatspräsident.
Ich sehe dabei zu, wie meine Familie über die Jahre immer konservativer wird. Früher war sie viel offener für unterschiedliche Lebensentwürfe. Wir haben zum Beispiel regelmäßig Huysuz Virjin angeschaut (Grumpy Virgin, eine berühmte Drag Queen in der Türkei, Anm. d. Red.). Meine Mutter hatte trans Freundinnen, die sie unterstützt hat, obwohl sie nicht supereng miteinander waren. Ihre Haltung war: Das sind Menschen, die machen etwas durch. Ob sie mit ihnen immer übereinstimmte, war zweitrangig. Die Menschlichkeit stand im Vordergrund ihrer Diskussionen.
Warum hat sich das geändert?
Die Medien zum Beispiel haben angefangen, LGBTQ-Menschen und sogar Alkohol aus dem Programm zu verbannen. Intolerantere Ansichten haben mehr Gewicht bekommen, und so ist das Land konservativer geworden. Natürlich gibt es Linke, Feminist*innen, queere Menschen, aber wir sind eine kleine Minderheit, die vor allem in der Bubble von Istanbul lebt. Die Regierung und Erdoğan haben es auf LGBTQ-Menschen abgesehen. Sie bezeichnen uns als Terroristen und Perverse, sie sprechen uns unsere Existenz ab. Gerade jetzt im Wahlkampf.
Wie beeinflusst diese queerfeindliche Politik Ihr tägliches Leben als genderfluide, queere Person?
Wenn ich auf die Straße gehe, habe ich mehr und mehr Angst um mein Leben. LGBTQ-feindliche, transfeindliche Menschen treten immer selbstbewusster auf. Sie beschimpfen uns und greifen uns an. Wir auf der anderen Seite haben jedes Vertrauen in den Staat verloren. Wir wissen, wenn wir zur Polizei gehen, werden sie uns eher nicht helfen. Es wird hier also immer strenger. Noch vor wenigen Jahren habe ich für eine große Modemarke gemodelt und bin auf einem Festival aufgetreten. Das alles scheint mir heute gesellschaftlich undenkbar. Es sei denn, die Wahlen bringen einen großen Umbruch.
Die Umfragen sind knapp. In vielen liegt der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, aber vor Staatspräsident Erdoğan, wenn auch nur wenige Prozentpunkte. Sollte es also wirklich zu einem Machtwechsel kommen – was erwarten Sie?
Ich persönlich hoffe vor allem erst mal, dass wir nicht endgültig zum Polizeistaat werden, sondern dass die Gewaltenteilung in diesem Land wieder funktioniert. Kılıçdaroğlu hat das versprochen. Bei der Demonstration zum feministischen Kampftag am 8. März habe ich bemerkt, dass die Polizei viel zurückhaltender war als sonst. Es gibt Gerüchte, dass sie Angst vor dem gesellschaftlichen Wandel haben.
Wie könnte dieser gesellschaftliche Wandel aussehen?
Sehr viele Leute hoffen darauf, ein freieres und toleranteres Leben führen zu können. Ich hoffe, wir können eines Tages wieder unzensiert in Mainstream-Medien stattfinden. Ich hoffe, dass wir Mittel bekommen für Kunst, für queere Menschen und Frauen in Not. Kleine Veränderungen würden das Leben so viel einfacher machen. In dem Venue, das unsere Show nach der Striptease-Einlage gestrichen hat, hieß es sinngemäß auch, dass wir uns ja vielleicht nach den Wahlen wieder sehen. Wenn alles nicht mehr so strikt ist.
Sie haben von Ihrer Familie gesprochen, die über die Jahre langsam immer konservativer wurde. Wie schnell kann eine Gesellschaft überhaupt wieder toleranter werden?
Von meinen älteren politischen Freund*innen höre ich, dass sich die türkische Bürokratie schnell verändern kann, wenn es sein muss. Die Mentalität der Menschen? Ich weiß nicht. Aber wenn die feministische, linke, queere Szene mehr Gehör bekommt, wenn wir unsere Meinung sagen können, ohne Angst vor dem Gefängnis haben zu müssen, wenn wir Kunst schaffen können, ohne zensiert zu werden, wenn unterschiedliche Lebensstile wieder Repräsentation in den Medien finden, dann kann das die Gesellschaft durchaus zur Toleranz hin verändern. Aber ob das schnell und einfach vonstattengehen wird? Da bin ich mir nicht sicher.
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