- Kultur
- Musik
Funkmusik in Brasilien: »Wir haben die Regierung zerstört«
Funkmusik in Brasilien wurde zur Stimme der Marginalisierten in den Armenvierteln. Immer mehr Frauen erkämpfen sich darin ihren Platz
Magra, clara e alta / Miss beleza universal / É ditadura ia! / Quanta opressão (Dünn, weiß und groß / Miss Universal Beauty / Das ist schon Diktatur! / Eine solche Unterdrückung), singt Doralyce bei einem Konzert in Rio de Janeiro. Die Sängerin steht in einem weißen Body und mit Glitzerstrumpfhose auf einer kleinen Bühne. Mit ihren silbernen Stiefeln und den langen, dunklen Locken hat sie eine einnehmende Präsenz. Der Funk-Song »Miss Beleza Universal« hat Doralyce 2018 berühmt gemacht, bis heute ist das Lied das bekannteste der 33-Jährigen. Der Song kritisiert, welchen Schönheitsbildern Frauen vermeintlich folgen müssen.
Das Publikum tobt, als Doralyce zu den harten Funkbeats langsam in die Knie geht, die Hüfte hochzieht, erst links, dann kippt sie das Becken nach vorne. Dann rechts und sie kippt das Becken nach hinten. Im Rhythmus schwenkt sie ihren Hintern. »Ich habe das Lied in einem traurigen, einem Moment der Unterdrückung geschrieben«, sagt sie. Ein Mann, mit dem sie ausging, hatte zu ihr gesagt, sie sähe dick aus in dem Kleid, das sie an dem Abend trug, und ihre Haare seien komisch. Daraufhin wurde Doralyce wütend und schrieb den Song.
Mit vollem Namen heißt sie eigentlich Doralyce Gonzaga, ihren Nachnamen nutzt sie aber nicht mehr, der sei »Teil des Patriarchats« und steht heute nicht einmal mehr auf ihrem Führerschein. Ursprünglich kommt sie aus Pernambuco im Nordosten von Brasilien. »Funk ist für mich eine Form von Empowerment der Frau«, sagt die Sängerin. »Frauen und Marginalisierte erkämpfen sich darin einen Platz, die Musik ist ein Werkzeug in diesem Kampf.« Deswegen sei Funk das logische Genre für »Miss Beleza Universal« gewesen.
Nicht jede*r würde bei Brazilian Funk als erstes an Feminismus denken. Ab den 70ern schwappte US-amerikanischer Funk nach Brasilien. Die starken Beats und die eingängigen Tanzschritte machten den Musikstil in Rio schnell zum Erfolg. In den 80ern erreichte Funk die Armenviertel der Stadt, die sogenannten Favelas. Erst dort entwickelte sich dann ein eigener Musikstil daraus, ein elektronischer Beat kam dazu, eine Mischung aus dem Funk und Soul der Vereinigten Staaten zur Zeit von James Brown, dem Hardrock von Kiss und der damaligen deutschen Elektro-Avantgarde von Kraftwerk – so hat es Wagner Dominguse da Costa, besser bekannt als Mr. Catra, mal beschrieben.
Schon bald hatte der Funk seinen eigenen Stil, war der Hip-Hop Brasiliens: Die Texte begannen sich um die Lebensrealität in den Favelas zu drehen, die Beats wurden markanter. Seitdem ist Funk immer mehr zur Stimme der Marginalisierten in Brasilien geworden. Aber nicht unbedingt von allen: Funk war – und ist bis heute – sehr männerdominiert. Der Ton der Texte ist rau und nicht selten misogyn oder gewaltverherrlichend, die meisten Masters Of Ceremony (MCs), wie die Funk-Sänger*innen genannt werden, sind nach wie vor Männer.
Iasmin Turbininha weiß das. Sie ist auf den Baile-Funks genannten Tanzveranstaltungen zu Hause. Schon als Kind nahm ihre Mutter sie zu den berühmt-berüchtigten Partys mit. Heute ist sie selbst Teil der Show: »Jetzt gibt’s nur noch Putaria«, ruft sie oft, wenn sie einen ihrer Auftritte beginnt. Putaria meint im Funk sexuell sehr explizite Texte. Turbininha ist 25, DJane und legt auf Baile-Funks auf. Die Tanzveranstaltungen finden normalerweise auf der Straße statt, kosten keinen Eintritt und sind gerade im Norden von Rio de Janeiro, weit ab von den schicken Bars und Clubs voller Tourist*innen, beliebt. Die Betreiber*innen der Getränke- oder Essensstände bezahlen die Künstler*innen, die auftreten.
Turbininhas ist in der Favela Mangueira im Norden von Rio de Janeiro aufgewachsen – und war vor einigen Jahren der erste weibliche Funk-DJ überhaupt. Auf die Frage, warum sie besonders gerne Funk Putaria spiele, sagt sie: »Die Leute lieben das.«
In der größten Stadt Brasiliens, der Zwölf-Millionen-Metropole São Paulo, entwickelt sich der Funk erst um das Jahr 2010. »Wir haben hier die Sounds aus Rio gehört: Bonde das Maravilhas oder Muleke do Passinho. Es gab keine richtige Choreografie, keine Technik«, sagt Renata Prado. Von Anfang an war die 32-Jährige in São Paulo als Funk-Tänzerin aktiv, heute ist sie Choreografin und trägt den Funk als Pädagogin auch in Klassenzimmer und Workshops.
Es ist ein kühler Novemberabend, Renata Prado gibt einen Kurs im Zentrum der Stadt. In der Casa Preta Hub, einem Kulturzentrum, das vor allem afrobrasilianischer und indigener Kunst und Kultur einen Raum geben will, geht sie in die Knie. »Lasst das Becken kreisen, ohne dabei den Rücken zu bewegen«, ruft sie.
Raphaela Medieros Costa ist heute zum ersten Mal dabei. »Ich dachte erst, ich kann das nicht und habe mich auch nie getraut, so mit anderen zu tanzen«, sagt die 25-Jährige. Sie merkt, dass ihr nach wenigen Schwingungen die Kraft ausgeht. »Es gibt einem schon ein Gefühl von Ermächtigung zu spüren, wie man aktiv über den eigenen Körper bestimmt.« Viele seien erstmal schüchtern, sagt Renata Prado, wenn sie zum Unterricht kommen. »Aber das ist normal: Funk als Kultur wurde ja immer als vulgär betrachtet.« Funk, beziehungsweise der dafür so typische Hüftschwung, erfordert Kraft in den Oberschenkeln, den Gesäßmuskeln, rund um das Becken. »Viele Frauen lernen nie, ihr Becken zu bewegen«, sagt Renata. »Damit damit meine ich nicht nur den Tanz. Zu wissen, wie man seinen Körper zum eigenen Vergnügen bewegen kann, ist auch für ein erfüllendes Sexualleben wichtig.« Hüftschwingen, Shaken, mit dem Hintern wackeln, das sei durchaus auch sexuell und nur dann problematisch, betont die Tänzerin, wenn Frauen in einer untergeordneten Rolle dargestellt werden. »Anders ist das, wenn die Frau selber darüber bestimmt, wo und wie und in welcher Position sie ihren Körper bewegt.« Das gilt für das eigene Zuhause ebenso wie für die Bühne.
Zurück in Rio. An einem Nachmittag sitzt Turbininha in ihrem »Favela-Studio«. Ein dunkler Raum, ein Sofa, ein Computer mit riesigem Bildschirm, seit neustem auch einem professionellen Mikrofon und fast hüfthohen Lautsprechern. Lautstärke ist nämlich zentral beim Funk. Egal ob auf den Straßenpartys oder wenn Turbininha ihre Tracks vorspielt – es muss so laut sein, dass man den Beat in jeder Phase des Körpers fühlt. Dieses kleine Studio ist für Turbininha der Inbegriff von Erfolg: Ihre erste Musik mixte sie mit einem Handymikrofon im Internetcafé.
»Funk hat mein Leben verändert«, sagt sie. »Und Funk hat das Potenzial, das Leben von vielen Menschen in der Favela zu verändern.« Sie hat in den vergangenen Jahren öfter erlebt, dass sie als Frau besonders um ihren Platz im Funk kämpfen musste. »Ich hatte nie weibliche Vorbilder«, sagt sie. Außerdem hätte es immer wieder Menschen gegeben, die ihr klarmachen wollten, dass es im Funk keinen Platz für lesbische, dicke Frauen gibt. »Diese Kritik hat mich damals sehr getroffen«, sagt Turbininha. Mit dem Funk aufgehört hat sie deswegen aber nicht. Heute folgen ihr mehr als 400 000 Menschen auf Youtube, ihre Sets laufen regelmäßig in einem britischen Radiosender, und sie kann vom Funk leben.
Kritik am Funk als frauenverachtend gibt es nicht nur wegen der Texte und der Männerdominanz, sondern auch wegen der Art, wie dazu getanzt wird: mit wackelnden Hintern, schwingenden Hüften und kurzen Shorts oder Röcken. Aus den USA gibt es dafür den Begriff »Twerken«, in Brasilien heißt der Tanzstil »Rebolar«. »Wenn ich Frauen so tanzen sehe, dann freue ich mich, befreite Frauen zu erleben«, sagt die Sängerin Doralyce. Sie ist sichtlich genervt von dieser Kritik. Nicht die tanzenden Frauen machten sich zu Sexobjekten, sondern diejenigen, die die Bewegungen sexuell interpretierten. Für Danilo Cymrot hat die Sexualisierung von Funk ein koloniales Element. »Schwarzen Menschen wurde schon früher vorgeworfen, pornografisch zu sein und unanständige Choreografien zu tanzen«, erklärt er die historischen Wurzeln des Phänomens. Außerdem schocke es die Gesellschaft, wenn Frauen offen über ihre sexuelle Lust sprechen.
»Funk gehört nicht einem Geschlecht, Funk ist für alle da«, sagt Iasmin Turbininha. »Und der Platz von Frauen im Funk ist, wo immer sie sein wollen.« Anders als Doralyce drückt sie ihren Feminismus nicht unbedingt in Texten aus, als DJane hat sie auch nur begrenzten Einfluss darauf. Stattdessen will sie andere Frauen und Mädchen aus der Favela ermutigen, auch Funk zu machen: indem sie als Vorbild dient, aber auch, indem sie ihr Wissen und ihre Ressourcen teilt.
Doralyce hat die Unterdrückung von Funk in den vier Jahren unter der Regierung Jair Bolsonaro gespürt. »Für alles, was Musik von Schwarzen oder armen Menschen ist, gab es extreme Kürzungen von Finanzmitteln«, sagt die Sängerin. »Stattdessen gab es Geld für Gospel und Sertanejo.« Bolsonaro äußerte sich auch immer wieder verächtlich gegenüber armen Menschen. Noch letzten Oktober sagte er im Rahmen des Wahlkampfs, in den Favelas lebten nur Drogendealer und Banditen.
Zur Freude von Doralyce und Isamin unterlag Bolsonaro in der Stichwahl ums Präsidentschaftsamt seinem Herausforderer Luiz Inácio »Lula« da Silva, der nun seit Januar brasilianischer Präsident ist. Bei seinem Amtsantritt wurden mehr als 60 Musiker*innen zu einer Show eingeladen, unter ihnen: Valesca Popozuda, Funkeira der ersten Stunde.
Doralyce hatte der Regierung Bolsonaro 2020 sogar einen Song gewidmet: »Wir werden die Regierung zerstören«, heißt er. Darin kritisiert sie, wie viele Menschen unschuldig bei Polizeioperationen getötet werden, und ruft zum Widerstand dagegen auf. Bei ihrer Show nach der Abwahl Bolsonaros Ende 2022 singt Doralyce diesen Song auch. Allerdings mit dem Zwischenruf: »Wir haben die Regierung zerstört!« Das Publikum tobt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.