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Lesekompetenz: Herkunft entscheidend
In Deutschland kann jeder vierte Viertklässler den Sinn von Texten nicht erfassen
Wie so oft bei Veröffentlichung von Studien zu Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern in verschiedenen Fächern zeigten sich auch am Dienstag wieder einmal viele Politikerinnen und Gewerkschaftsvertreter alarmiert bis entsetzt. In diesem Fall hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihre neuesten Zahlen zur Lesekompetenz von Viertklässlern vorgelegt. Zentraler Befund der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu): Jedes vierte Kind in der Altersgruppe kann nicht richtig lesen.
Einer von vielen weiteren: Wie gut die Fähigkeit zum Erfassen und Verstehen von Texten ist, hängt im internationalen Vergleich immer noch überdurchschnittlich vom familiären Umfeld ab. Und: im Vergleich zur letzten Erhebung ist Deutschland im Vergleich mit den anderen OECD-Ländern weiter zurückgefallen. Bei der letzten Erhebung 2016, deren Ergebnisse Ende 2017 veröffentlicht wurden, hatte »nur« jedes fünfte Kind hierzulande »gravierende Probleme« beim Lesen.
Bei der Erhebung 2021 erreichten die Viertklässler hierzulande eine mittlere Lesekompetenz von 524 Punkten. Damit lag Deutschland unter dem Durchschnitt der OECD- und der EU-Staaten, der bei 527 Punkten lag. Zudem verschlechterte sich der Schnitt damit das dritte Mal in Folge. In der vorherigen Erhebung 2016 hatten die Viertklässler in der Bundesrepublik noch durchschnittlich 537 Punkte erreicht. Zugleich stieg der Anteil der sogenannten schwachen Lesenden von 18,9 auf 25,4 Prozent.
»Ein Viertel unserer Viertklässler*innen in Deutschland erreicht nicht den international festgelegten Standard für eine Lesekompetenz, die für einen erfolgreichen Übergang vom Lesenlernen zum ›Lesen um zu lernen‹ notwendig ist«, sagte Nele McElvany von der Technischen Universität Dortmund, die die Untersuchung in Deutschland leitete. Dies sei »bedenklich«. Zudem zeigten die Ergebnisse, »dass Kompetenzvorsprünge von Schüler*innen aus sozial privilegierten Familien gegenüber Kindern aus sozial weniger privilegierten Familien in Deutschland nach wie vor stark ausgeprägt sind«, so McElvany. Seit der ersten Iglu-Studie vor 20 Jahren habe sich bei Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit somit »praktisch nichts verändert«.
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nannte die Daten zur Lesekompetenz »alarmierend«. Gut lesen zu können, sei »eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg«. Die Untersuchung zeige, »dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen«, so die Ministerin. Sie verwies auf das kürzlich von der Bundesregierung vorgelegte sogenannte Startchancen-Programm, mit dem 4000 Schulen in sozial benachteiligter Lage ab dem Schuljahr 2024/2025 gefördert werden sollen. Der Bund stellt dafür eine Milliarde Euro jährlich bereit, die Länder sollen sich in gleicher Höhe beteiligen. Mit dem Programm könnten Bund und Länder »gemeinsam für mehr Chancengerechtigkeit sorgen«, meinte Stark-Watzinger.
SPD-Chefin Saskia Esken forderte ein Vorziehen des Startchancen-Programms. Sie sei für »eine stufenweise Umsetzung, die noch in diesem Jahr mit den Grundschulen beginnt, denn auf den Anfang kommt es an«, sagte Esken der Nachrichtenagentur AFP. »Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Sozialhintergrund dürfen wir nicht hinnehmen«, mahnte die Politikerin und forderte die Länder auf, mehr gegen Lehrermangel zu unternehmen.
Die Grünen-Bildungsexpertin Nina Stahr forderte Bund und Länder auf, sich »zeitnah auf gemeinsame Eckpunkte für das Startchancen-Programm« zu einigen.
Nicole Gohlke, bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, forderte, Bildung müsse »endlich zur Chefsache« gemacht werden. »Wir brauchen jegliche Ressourcen dort, wo die Grundlagen gelegt werden: in den Kitas und in den Grundschulen«, erklärte sie am Dienstag. »Eine ausreichende Finanzierung, eine Fachkräfteoffensive und gezielte flächendeckende Sprach- und Leseförderprogramme sind dringend notwendig. Mit Kaputtsparen muss endlich Schluss sein.«
Ähnlich äußerte sich Anja Bensinger-Stolze, im Vorstand der Bildungsgewerkschaft GEW zuständig für den Schulbereich. Das Budget für das Startchancen-Programm müsse »deutlich aufgestockt« werden, forderte die Gewerkschafterin. Es sei »verantwortungslos«, dass das Programm immer noch nicht »in trockenen Tüchern« sei. Obwohl es bereits auf das Schuljahr 2024/25 verschoben sei, stehe es immer noch unter Haushaltsvorbehalt. Dieser müsse »unbedingt ausgeräumt werden«.
Generell sei das deutsche Bildungssystem »seit Jahrzehnten dramatisch unterfinanziert«, monierte Bensinger-Stolze. Die GEW fordert deshalb »ein 100-Milliarden-Euro-Programm für Investitionen in die Bildung«. Notwendig seien jetzt unter anderem mehr Schulsozialarbeiter*innen und eine bessere Ausbildung und Bezahlung für Grundschullehrerinnen.
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