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Leyla Balkan: »Wir werden uns aufrichten und weitergehen«

Die abgesetzte kurdische Bürgermeisterin Leyla Balkan spricht über die Wahlen in der Türkei

  • Anna Beaucamp und Camille Borchert
  • Lesedauer: 6 Min.
Bei einer Wahlveranstaltung der Grünen Linkspartei (YSP) schwenken Frauen in der ostanatolischen Stadt Van Fahnen der YSP, auf deren Listen die Kandidaten der pro-kurdischen HDP zur Wahl angetreten sind.
Bei einer Wahlveranstaltung der Grünen Linkspartei (YSP) schwenken Frauen in der ostanatolischen Stadt Van Fahnen der YSP, auf deren Listen die Kandidaten der pro-kurdischen HDP zur Wahl angetreten sind.

Das Ergebnis der Wahlen ist ernüchternd und macht viele Menschen wütend und traurig. Erst nach der Stichwahl wird sich zeigen, wie es für Kurdistan und die Türkei weiter geht. Sind Sie enttäuscht?

Interview

Leyla Balkan, geboren 1989, wurde bei den Kommunalwahlen 2019 Co-Bürgermeisterin von Muradiye, einer Gemeinde in der ostanatolischen Provinz Van. Gewählt wurde sie für die linksgerichtete HDP (Demokratische Partei der Völker), die jetzt als Teil der YSP (Grüne Linkspartei) angetreten ist.

Am Tag nach der Wahl war meine Stimmung sehr schlecht. Aber noch habe ich meine Hoffnung nicht verloren. Inzwischen habe ich mich wieder gesammelt, weil wir den Willen haben, die Wahl zu gewinnen und das faschistische Monster von der Macht zu stürzen. Seit Jahren wird die kurdische Gesellschaft ausgeblutet und ermordet. Erdoğan soll wie andere faschistische Unterdrücker im Mülleimer der Geschichte landen. Ich bin voller Zuversicht, dass wir uns in zwölf Tagen von Erdoğan und seinem Kabinett verabschieden werden. Um Ihre Frage zu beantworten: Die Stimmung ist gut, wir versuchen, uns gegenseitig zum Lachen zu bringen und unsere Niedergeschlagenheit zu überwinden. Wir sind ja nicht gestorben, wir sind gefallen. Wir werden uns aufrichten und weitergehen. Stillstand ist die größte Gefahr und wir sind momentan schon wieder im Aufbruch. Ja, wir sind traurig und verbittert über den Ausgang der Wahl, aber wir werden den Weg weiter gehen mit all jenen Menschen, die Frieden, Geschwisterlichkeit und Demokratie wollen.

Wie bewerten Sie den Wahlkampf angesichts des Wahlausgangs und was wollen Sie bis zur Stichwahl ändern?

Hier in Muradiye und in den kurdischen Gebieten haben wir eigentlich gute Wahlergebnisse erziehlt. Die Mehrheit der Menschen hat Kılıçdaroğlu ihre Stimme gegeben, um das faschistische System zurückzudrängen. Trotzdem haben von 27 500 Wahlberechtigten in Muradiye 4500 Menschen ihre Stimme der AKP Erdoğans gegeben, das sind rund 20 Prozent. Wir werden jetzt strategisch weiterarbeiten. Wir sind gerade dabei, eine Kommission zu gründen, welche nochmal versucht, die Menschen außerhalb der Stammwählerschaft zu erreichen. Dafür gehen wir an die Orte, wo die AKP die Mehrheit der Stimmen bekommen hat, um uns persönlich mit den Menschen zusammenzusetzen. Uns bleibt keine andere Möglichkeit, außer zu versuchen, diese Menschen zu überzeugen, ihre Stimme doch noch dem anderen Kandidaten zu geben. Landesweit liegt es jedoch in der Verantwortung Kılıçdaroğlus, weiterhin auf die Menschen zuzugehen und dem erschöpften und ausgelaugten Wahlvolk Hoffnung und Mut zu vermitteln. Er muss den Menschen jetzt seinen Kampfgeist und eine gewisse Sicherheit über den Sieg der Wahl vermitteln.

Unterscheidet sich dieser Wahlkampf vor der Stichwahl von anderen Wahlkämpfen?

Ich habe, seit ich wahlberechtigt bin, noch nie erlebt, dass eine Wahl in eine zweite Runde geht. Was diese Wahl von anderen unterscheidet, ist unter anderem, dass Kılıçdaroğlu nicht der Kandidat unserer Wahl ist. Wir arbeiten ihm aus strategischen Gründen zu. Es ist in dieser Wahl wichtig, demjenigen Kandidaten die Stimmen zu verschaffen, der wenigstens etwas mehr Verständnis von Demokratie hat.

Wie haben Sie sich an den Vorbereitungen zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eingebracht?

Unsere letzten Wochen waren unglaublich arbeitsintensiv. Wir haben alle Dörfer der Gemeinde Muradiye besucht, mit den Familien gesprochen und ihnen Infos zur Wahl gegeben. Wir sind ja früher als HDP (Demokratische Partei der Völker) angetreten, gegen unsere Partei läuft aber ein Verbotsverfahren, daher stehen unsere Kandidaten auf den Listen der Grünen Linkspartei (YSP). Das verwirrt einige, außerdem haben wir diesmal für den Präsidentschaftskandidaten der CHP (Republikanische Volkspartei) gestimmt. Es geht aber auch darum, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, ihre Kämpfe und ihre Ausdauer zu sehen. Wir hatten Treffen mit Jugendlichen und Frauen, um deren Anliegen zu hören.

Wie geht es nach der Wahl weiter?

Es gibt vieles, was wir umsetzen wollen. Die AKP Regierung will nicht, dass sich die Frauen ihrer Stärke bewusst werden und sich feministisch bilden. Wenn wir wieder gesellschaftliche Entscheidungen treffen dürfen, wird einer der ersten Schritte sein, die Frauenvereine wieder zu eröffnen. Wir wollen endlich wieder zusammenkommen, uns in die Arme nehmen und uns weiterbilden. Das ist unser Ziel. Ein weiterer wichtiger Schritt wird es sein, die Anliegen der Jugend zu beantworten. Die Zwangsverwaltungen richten sich nicht nach den Bedürfnissen der Jugend, sodass ein großer Teil der jungen Menschen versucht, sich mit prekärer Arbeit etwas Geld anzusparen, um das Land zu verlassen.

Erhoffen Sie sich Verbesserungen für die Kurd*innen?

Zuerst müssen unsere Wunden verheilen. Mit verschiedensten subtilen Methoden und Politiken, und der spezialen Kriegsführung hat der Staat einen ungeheuerlichen Druck auf die Kurd*innen aufgebaut. Die Gesellschaft muss sich ihrer Probleme bewusst werden, erst dann können wir etwas verändern. Vorher werden diese Veränderungen keinen Gehalt haben. Wir müssen verinnerlichen, wie wir leben wollen, dann können wir in die Umsetzung gehen und für diese Umsetzung braucht es die richtigen Methoden. Bildung muss wieder in unserer Muttersprache, also auf Kurdisch stattfinden. Es braucht geschlechtliche Aufklärung und Sexualkunde, Bildung über unsere Geschichte und eine Praxis des gleichberechtigten Zusammenlebens. All das wollen wir im hier und jetzt, für die Zukunft, für die Jugend, für eine befreite Gesellschaft. Wir werden sehen, was nach den Wahlen möglich ist.

Wie sind Sie als junge Frau politisiert worden und in die Politik gegangen?

Es ist unmöglich, in Kurdistan geboren zu sein und kein politisches Verständnis aufzubauen. Von klein auf sind wir konfrontiert mit Unterdrückung. Kinder erleben Hausdurchsuchungen mit, sehen, wie ihre Eltern verhaftet oder ermordet werden. Unsere Muttersprache zu sprechen ist verboten. Unter dem Druck, der hier herrscht, wird man sehr kritisch gegenüber den Mächtigen. Diesen Widerstand gegen das Unterdrückungssystem gibt es in allen jungen Menschen Kurdistans. Ich bin seit Schulzeiten in der kurdischen Jugendbewegung. Während meines Studiums in der Westtürkei habe ich gemerkt, dass meine Leute uns brauchen, und bin zurück nach Muradiye gegangen, um dort für das Bürgermeister*innenamt zu kandidieren.

Wie war diese Erfahrung?

Seit 2018 arbeite ich aktiv in Muradiye, 2019 wurde ich zur Co-Bürgermeisterin gewählt und schon neun Monate später wurden ich durch die von Erdoğan eingeführte Zwangsverwaltung meines Amtes entmachtet. Es ist vor allem der offene Zugang für Frauen und die Wichtigkeit, die dem gleichberechtigten Zusammenleben zwischen Männern und Frauen zuteil wird, die mich zur HDP und zur YSP gebracht haben. Als Frauen haben wir überall einen Raum und ein Recht auf Existenz. Wenn wir diese Räume füllen und uns ändern, können wir die ganze Welt ändern. Davon bin ich überzeugt. Wir implementieren das Co-Vorsitzenden-System, das heißt, jede verantwortliche Position wird jeweils von einer Frau und einem Mann ausgeübt. Wir wollen Frauen wie Männer ermutigen, sich an der Politik zu beteiligen.

Was gibt Ihnen dieser Tage Kraft?

Was mich am Leben hält, sind die Frauen der kurdischen Bewegung, weil sie ihre Hoffnung nie fahren lassen und immer weiter kämpfen. Mit diesen Frauen teile ich meinen Weg und meine Hoffnung auf ein befreites Leben.

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