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Insektensterben: »Wissen seit 50 Jahren von der Klimaerwärmung«
Der Insektenkundler Werner Schulze über Schmetterlingsarten und den Klimawandel
Herr Schulze, passen Entomologen noch in die heutige Zeit?
Werner Schulze ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft westfälischer Entomologen sowie des Nabu-Bundesfachausschusses für Entomologie. Der ehemalige Lehrer leitet damit das bundesweite Bindeglied zwischen zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften und dem Naturschutz.
Natürlich! Insekten gibt es schließlich überall, in jeder Ecke. Nur auf der Hochsee nicht. Und während manch einer uns früher noch als Spinner abgetan hat, wird unsere Arbeit mittlerweile ganz anders wahrgenommen.
Statt von Insektensterben reden Sie von Insektenschwund. Warum?
Die Insekten sterben heutzutage nicht einfach, sie verschwinden in vielen Gebieten. Wegen der Agrarwirtschaft und der eingesetzten Pestizide, aber auch wegen des Klimawandels. Studien aus der ganzen Welt zeigen, dass die Masse der Insekten in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist.
Etwa die Langzeitstudie des Krefelder Entomologischen Vereins, in der 2017 erstmals das Insektensterben festgestellt wurde – auf der Basis von Daten, die über einen Zeitraum von 27 Jahren in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gesammelt worden sind.
Am Anfang versuchten einige Universitäten noch, die Zahlen der Krefelder zu bekämpfen. Inzwischen ist das nicht mehr der Fall. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch die Insekten auf Klimaerwärmung reagieren müssen. Wenn es bei uns in Bielefeld in den Tälern und Wiesen immer wärmer wird, dann können sich Insekten oft nicht mehr zweimal im Jahr reproduzieren, es fehlt also die zweite Generation. Insekten wie die Landkärtchenfalter können zwar in die Hügel hinter der Stadt wandern, wo es kühler ist und wo sie überleben können. Dort finden wir Entomologen diese Schmetterlinge noch. Doch irgendwann werden sie nicht mehr nach oben ausweichen können, schlichtweg, weil die Höhen fehlen. Die Natur adaptiert sich unaufhörlich, aber nicht alle Arten können mithalten.
Trotz Ihrer Beschreibung des Insektenschwunds wirken Sie nicht nur pessimistisch
Es kommen ja auch neue Arten nach Deutschland. Ich lese rund 30 wissenschaftliche Artikel am Tag; wenn ich einen Tag verpasse, dann muss ich am nächsten Tag 60 lesen. Daher weiß ich immer im Vorfeld, wenn sich ein neuer Schmetterling Richtung Ostwestfalen aufmacht. Wie etwa der Karstweißling, nach dem ich jahrelang auf der Suche gewesen bin. Dieser Schmetterling wurde 2008 zum ersten Mal nördlich der Alpen beobachtet. Dann, eines Tages im Jahr 2015 sah ich dieses Insekt zufällig neben meinem Kompost auf einer Fette-Henne-Pflanze sitzen und beförderte es sofort in mein Giftglas.
Wie hat es der Karstweißling bis zu Ihnen geschafft?
In der Arbeitsgemeinschaft westfälischer Entomologen gehen wir davon aus, dass es zunächst zu einer evolutionären Änderung in einer ganz spezifischen Population in der Südschweiz und im französischen Rhonetal kam. Ehe es zu der spektakulären Arealerweiterung gekommen ist, muss es also eine Mutation gegeben haben. Denn im Süden beheimatete Schmetterlinge kommen schließlich nicht wahllos auf ein Mal hierher. Ähnliche Beobachtungen sind uns ebenfalls von der Mönchsgrasmücke oder dem Birkenspanner bekannt.
Wann haben Sie mit der Insektenbeobachtung angefangen?
Meine Eltern haben mein Interesse an der Natur gefördert. Es war nach dem Krieg in einem Kleinstadtgarten, mit Wald, Tieren und Feuer machen. Mein Erweckungserlebnis kam, als ich mit neun Jahren eine braune Raupe aus dem Wald angeschleppt habe und zu Hause aufbewahrte. Ich wusste, dass ich sie auf keinen Fall stören sollte und kein Loch in die Puppe machen dürfte. Das ging so zwei bis drei Wochen. Eines Tages kam ich von der Schule und sah einen wunderbaren »Braunen Bär« mit seinen Tarnfarben aus Elfenbein auf den Vorderflügeln und den grau- und orange-roten Hinterflügeln. Ich fing an, systematisch Bücher zum Thema zu sammeln. Meine erste Schmetterlings-Zeitschrift bekam ich 1965 in die Hand, seitdem besitze ich 60 komplette Jahrgänge.
Was lernen Kinder heute über die Insektenwelt?
Meine Mutter hat mich nur einmal in der Schulzeit zur Schule gebracht: am ersten Tag. Danach musste ich 3,5 Kilometer zur Schule durch einen alten Buchen- und Eichenwald laufen. Heute werden Kinder zur Schule gefahren, obwohl es fünfmal weniger Autounfälle als damals gibt. Und auch wenn der Schulweg durch den Wald der Vergangenheit angehören mag, ist dennoch ein neues Bewusstsein bezüglich der Bedeutung und Faszination von Insekten entstanden. Wenn ich meine Enkelkinder in Hamburg besuche, dann fragen sie vorher immer: »Opa, bringst du uns bitte Raupen mit«?
Was trägt der Bundesfachausschuss zum neuen Bewusstsein in der Bevölkerung bei?
Es geht hauptsächlich darum, Wissen und Ideen zu liefern. Etwa zu den Themen »Stadtnatur« oder »Das Insekt im Wald«. Eine große Frage im Moment ist, ob es für die Natur besser wäre, die Städte extrem zu verdichten, um dadurch die umliegende Natur zu schonen. Oder ob es zielführender wäre, die Stadt als Lebensraum der Fauna zu entwickeln. Während die meisten entomologischen Organisationen regional ausgerichtet sind, sind wir bundesweit tätig. Manche Organisationen sind bereits über 100 Jahre alt, der Nabu verbindet sie miteinander.
Was macht Sie bei Ihrer Arbeit nostalgisch, was hoffnungsvoll?
Nicht nur die Natur ändert sich, auch die menschliche Welt ändert sich permanent. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass ein 30-Jähriger meistens die Welt im Kopf hat, wie er sie erlebt hat, als er 20 war. Das ist dann eben sein innerer Standard. Als ich als junger Mann auf Feldforschung war, sind die Schmetterlinge und Insekten manchmal aus jedem Knopfloch in unseren Hemden gekrochen. Es war damals so eine Fülle, die es so heute einfach nicht mehr gibt. In Ostwestfalen hatten wir für eine Art früher manchmal 50 mögliche Fundorte, jetzt sind es manchmal nur noch drei.
Hat sich am Berufsbild etwas geändert?
Früher war es ein Klischee, dass wir Entomologen reine Männergesellschaften bildeten; das habe ich immer auf die Schippe genommen. Heute ist das definitiv nicht mehr der Fall. Zwar sind es noch immer die Männer, die leidenschaftlich systematisch sammeln und Frauen, die mehr am Naturschutz interessiert sind. Manche Mitglieder lehnen heute auch eine eigene Sammlung ab, weil das immer mit dem Töten der Organismen verbunden ist. Doch eigentlich kann man ohne eine Sammlung kein Insektenkundler sein. Insgesamt sind wir heute aber vielfältiger: Manche fotografieren, andere wiederum beschäftigen sich mit der Kunst.
Schon seit einiger Zeit machen Aktivist*innen auf die Folgen des Klimawandels aufmerksam. Was halten Sie davon?
Die Ziele der Letzten Generation teile ich vollständig. Wir Entomologen wussten von der Klimaerwärmung schon vor 50 Jahren, als wir anfingen, die ungewöhnliche Erweiterung von Arealen zu beobachten. Das war zur Zeit des ersten Club of Rome-Berichts. Ich finde es aber nicht zielführend, wenn die verschiedenen ökologischen Bewegungen nicht eng zusammenarbeiten, sondern teilweise sogar gegeneinander. Ihre Ziele teile ich absolut, aber es sollte bei allen Aktionen überlegt werden, was man erreichen will und wen man überzeugen will. Das Ankleben auf Autostraßen ist nicht zielführend. Aber einzelne Gruppen oder Bewegungen innerhalb der Natur- und Umweltschutzbewegungen können selbstverständlich eigene Schwerpunkte haben oder methodisch unterschiedlich vorgehen. Das ist
völlig normal.
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