- Berlin
- Schwarz-Rot in Berlin
SPD-Chef Raed Saleh: »In der Krise spart man nicht«
Berlins SPD-Chef Raed Saleh über seine Partei, den Koalitionspartner CDU und den Vorwurf der Gießkannenpolitik
Erst die Wahlschlappe, dann der Gegenwind in der SPD zum Koalitionsvertrag: Haben Sie Bammel vor dem Landesparteitag am kommenden Freitag, Herr Saleh?
Raed Saleh, Jahrgang 1977, wuchs unter beengten Verhältnissen in der Spandauer Großsiedlung Heerstraße Nord auf. Mit 18 wurde er Mitglied der SPD, mit 29 zog er ins Abgeordnetenhaus ein. Seit 2011 steht Saleh an der Spitze der Berliner SPD-Fraktion, 2020 übernahm er gemeinsam mit Franziska Giffey den Landesvorsitz der Partei. Bei der Wahl im Februar fuhr die SPD Berlin mit 18,4 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein.
Bammel nicht, aber Respekt – wie vor jedem Parteitag. Wir kommen nach der Wahl am 12. Februar zum ersten Mal als Parteitag zusammen. Und ich freue mich auf die vielen Genossinnen und Genossen und auch auf die Debatte. Meine Partei ist eine Debattenpartei, genau das schätze ich an unserer Sozialdemokratie.
Es wird erwartet, dass es auf dem Parteitag »knallen« wird. Das klingt weniger nach breiter Diskussion als nach Krawall.
Sehen Sie, solange ich zurückdenken kann, ist die SPD eine Debattenpartei, in der viel diskutiert wird. Und ja: Wir machen es uns nicht immer leicht. Aber: Diejenigen, die sich in der SPD zusammentun, die sich an einem verlängerten Pfingstwochenende die Zeit nehmen, um am Ende um das Beste für die Stadt zu ringen, das sind alles engagierte, politisch denkende Menschen. Deshalb betrachte ich unsere Parteitage immer als Bereicherung, auch für die Stadt Berlin.
Die engagierte SPD hätte Ihnen beim Mitgliederentscheid fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nur 54 Prozent wollten Ihrem Votum für Schwarz-Rot folgen. Das ist extrem mau, finden Sie nicht?
Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Entscheidung knapp wird. Ich kenne meine Partei. Ich bin aber auch überzeugt: Wenn man nach mehr als 20 Jahren das Rote Rathaus aufgibt und als Partner die CDU wählt, weil man glaubt, dass der Weg – trotz Bauchschmerzen, trotz eigener Überwindung – für die nächsten dreieinhalb Jahre der vernünftigere ist, dann möchte man das so breit wie möglich legitimieren. Darum war es richtig, dass die Parteibasis entschieden hat. Und ich habe die Diskussionen während des Mitgliederentscheids als sehr konstruktiv empfunden.
Tatsächlich wirkte die SPD während dieser Zeit doch zutiefst gespalten, gegenseitige Anfeindungen inklusive. Für Außenstehende sah das nicht konstruktiv aus.
Wissen Sie, ich bin das sechste von neun Kindern in einer elfköpfigen Familie. Diskutieren, nach dem richtigen Weg suchen, das war immer Teil meiner Person. Und viele, die mit Nein votiert haben, sind Freunde von mir, selbst Genossinnen und Genossen aus meinem engsten Umfeld. Sie haben mit Nein votiert, weil sie den Weg mit der CDU für falsch halten oder gesagt haben, Opposition ist uns lieber. Aber das ist das Schöne an meiner Partei, dass sie immer wieder ringt, und wir haben hart gerungen, intensiv gerungen, kontrovers diskutiert. Ich habe Verständnis für jede und jeden, der dieses Bündnis kritisch bewertet hat.
Kurz darauf wäre dann aber auch noch die Wahl von Kai Wegner zum Regierenden im Abgeordnetenhaus beinahe in die Hose gegangen, auch aufgrund fehlender Stimmen aus Ihrer Fraktion. War die Zitterwahl nicht auch Ihr Versagen?
Wir leben in einer Demokratie, wir haben eine Verfassung. Und diese Verfassung sieht drei Wahlgänge vor. Ich halte nichts davon, jetzt zu analysieren, wo war welche Stimme nicht da. Wir hatten während der Wahlgänge sehr offene, aber auch sehr klare Gespräche mit der Fraktion geführt. Dasselbe hat die CDU in ihren Reihen getan. Am Ende stand die Koalition mit ihren 86 Stimmen. Nur das war entscheidend.
Es heißt, Sie haben Ihre Fraktion fest im Griff. Waren Sie nicht überrascht, ja erschrocken, dass so viele gegen Schwarz-Rot gestimmt haben?
Ich war nicht überrascht und auch nicht erschrocken. In solchen krisenhaften Situationen werde ich eher ruhig und versuche, sie zu meistern. Und darauf kommt es dann an, dass es am Ende geklappt hat.
Unmittelbar nach der Wahl Wegners haben Sie erklärt, Sie werden die Arbeit des Senats, insbesondere die der CDU-Riege, »kontrollieren und nötigenfalls korrigieren«, was fast leninistisch klingt...
Was hat das mit Lenin zu tun?
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« Fast leninistisch eben.
Ich sehe, Sie arbeiten wohl schon zu lange beim »nd«! (lacht)
Dann frage ich anders: Wie lange hält der Koalitionsfrieden?
Sie kennen mich. Ich bin leidenschaftlich gern Parlamentarier und meine SPD-Fraktion ist kein Abnickverein. All die Initiativen, die Gesetze, die großen Vorhaben der letzten Jahre, die gingen meistens vom Parlament aus: Kauf der Wasserbetriebe, Kauf der Stromnetze, die gebührenfreie Bildung in Berlin von der Kita bis zur Hochschule. Auch das große Kreditprogramm war vom Parlament ausgegangen. Wir haben Milliarden zusätzlich aufgenommen, ganz nach dem Motto: In der Krise spart man nicht. Unsere Aufgabe als Parlamentarier in der Gewaltenteilung ist es, Gesetze zu machen, aber auch den Senat zu kontrollieren, notfalls zu korrigieren.
In der Krise spart man nicht, sagen Sie. Bereiten Sie sich schon auf Ihre ersten Auseinandersetzungen mit dem neuen CDU-Finanzsenator Stefan Evers vor?
Auch da muss ich Ihnen wieder sagen, dass ein Blick in die Verfassung genügt, um zu wissen, dass der Haushalt das Königsrecht des Parlaments ist. Ein Finanzsenator, der klug ist, redet vorher mit dem Parlament.
Im Wahlkampf wurden Sie von Stefan Evers schwer angegangen. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihm beschreiben?
Professionell.
Und Ihr Verhältnis zu Kai Wegner, dem »einsamen Kai«, wie Sie ihn im Wahlkampf genannt haben?
Professionell.
Diplomatische Antworten. Hat sich die CDU eigentlich für die Vornamensabfrage nach der Silvesternacht entschuldigt?
Wir hatten dazu sehr intensive Beratungen und sehr intensive Diskussionen. Und ich habe in den Koalitionsverhandlungen selbst die Arbeitsgruppe Vielfalt geleitet. Das, was wir hier verabredet haben, ist ein klares Statement, ein Bekenntnis zur Stadt der Vielfalt, zur Stadt der vielen Religionen, Traditionen und Kulturen, zur Regenbogenhauptstadt Berlin, zur inklusiven Stadt Berlin – ich bin zufrieden mit den Ergebnissen.
Das beantwortet meine Frage nicht, ob sich die CDU entschuldigt hat.
Wie gesagt, wir hatten dazu sehr intensive Beratungen. Die Haltung der SPD in dieser Frage ist klar und hat sich durchgesetzt. Das Bekenntnis zur Stadt der Vielfalt und die guten Ergebnisse in diesem Bereich aus dem Koalitionsvertrag bilden die Grundlage für die Arbeit der Koalition für die nächsten dreieinhalb Jahre.
Dann schauen wir in die Zukunft. Ihr zentraler Wahlkampfschlager war die Fortführung des 29-Euro-Tickets für alle. Jetzt plant Schwarz-Rot wohl, das Deutschlandticket auf 29 Euro zu rabattieren, aber nur für bestimmte Gruppen. Das sehe ich doch richtig?
Nein, genau das planen wir nicht. Wir wollen einen Weg für ein 29-Euro-Ticket für alle und nicht nur für einzelne Gruppen. Wir denken die hart arbeitende Bevölkerung mit. Das unterscheidet uns eben vom Konzept der Grünen.
Aber genau auf die Idee der Grünen dürfte es doch jetzt hinauslaufen, auch ohne die Grünen. Sie bleiben also dabei: 29-Euro-Ticket für alle. Da wird es wieder heißen: Gießkannenpolitik.
Wissen Sie, ich kann diese Überheblichkeit mit dem Argument der Gießkanne nicht mehr hören. Wer so redet, verkennt die Wirklichkeit der meisten Menschen in der Stadt. Der Gießkannen-Vorwurf ist gekennzeichnet von einer arroganten Haltung. Denn auch Leute, die 2600 Euro brutto verdienen, drehen teilweise jeden Euro dreimal um. Und was machen denn Eltern mit dem Geld, das sie durch die gebührenfreie Kita sparen? Die meisten geben das doch aus für ihre Kinder. Ich habe mir geschworen, die Armut in dieser Stadt zu bekämpfen. Dafür bin ich Sozialdemokrat, dafür mache ich leidenschaftlich gern Politik. Und deswegen muss man Familien entlasten und nicht belasten.
Jetzt haben Sie zwar nichts mehr zum 29-Euro-Ticket für alle gesagt, sich aber in Rage geredet.
Nein, ich habe Ihnen leidenschaftlich dargestellt, wie wichtig für die Menschen die bezahlbare Stadt ist. Das sichert Existenzen und verhindert Gentrifizierung.
Auch Ihr neuer Koalitionspartner CDU hatte im vergangenen Jahr noch lautstark das Gießkannenprinzip gegeißelt. Es hieß sogar kurz, man müsse über die generelle Gebührenfreiheit des Kita-Besuchs sprechen.
Der Erhalt und auch der Ausbau der Gebührenfreiheit ist elementarer Bestandteil des Koalitionsvertrags.
Dann warten wir es ab. Kommen wir noch einmal zur SPD. Ihre Co-Parteichefin Franziska Giffey hat erklärt, sie könne sich vorstellen, dass 2024 die SPD-Mitglieder per Urwahl über einen neuen Landesvorsitz entschieden. Was halten Sie davon?
Das steht gar nicht an. Vor uns liegt ein Jahr harte Arbeit und ich möchte, dass wir ganz viele Verabredungen, die wir mit der CDU getroffen haben, jetzt umsetzen, angefangen beim Thema Wahlalter 16. Auf diese Verabredungen konzentriere ich mich als Landes- und als Fraktionsvorsitzender, und darauf, dass wir mit einem geschärften Profil der SPD das Rote Rathaus 2026 zurückerobern.
Die Linke hat ihre Landesspitze personell komplett neu aufgestellt. Auch in der SPD wird das gefordert. Das steht für Sie nicht zur Debatte?
Die SPD Berlin konzentriert sich jetzt darauf, die Themen zu setzen und die Umsetzung der wichtigen Punkte im Koalitionsvertrag kritisch zu begleiten.
Noch einmal die Frage: Eine personelle Neuaufstellung steht für Sie nicht zur Debatte?
Wir haben im kommenden Jahr Parteiwahlen. Die Partei wird inhaltlich, strukturell und personell ihre Breite abbilden. Das ist die Stärke der Sozialdemokratie.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.