Russische Deserteure erhalten noch immer kein Asyl in Deutschland

Kriegsdienstverweigerer werden in Russland verfolgt, Deutschland bietet ihnen trotzdem kaum Schutz

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 6 Min.
Die russische Armee verliert bei Männern an Ansehen. Doch für diejenigen, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen, gibt es nur wenige Auswege.
Die russische Armee verliert bei Männern an Ansehen. Doch für diejenigen, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen, gibt es nur wenige Auswege.

Kirill ist dem Krieg in der Ukraine gerade noch so entkommen. Wenige Tage, bevor der 21-Jährige den Einberufungsbescheid in die russische Armee bekam, obwohl er nie gedient hatte, verließ er seine Heimatstadt St. Petersburg und floh über Finnland nach Berlin. »Am Flughafen bin ich zu den Polizisten gegangen und habe ›Asyl‹ gesagt, dann erst ›Guten Tag‹«, erzählt Kirill. Viele seiner Freunde haben es dagegen nicht geschafft und befinden sich momentan in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder auf der Krim. Der Kontakt mit ihnen ist schwierig, aber wenn es doch einmal Nachrichten gibt, dann keine guten, sagt Kirill.

Kirill ist einer von 2851 Russen, die nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im vergangenen Jahr in Deutschland Asyl beantragt haben. Von Januar bis April 2023 erreichten das BAMF bereits 2946 Asylgesuche. Eine verschwindend geringe Zahl angesichts der Massen, die Russland nach Kriegsbeginn und insbesondere nach Beginn der Mobilisierung im vergangenen September verlassen haben und seitdem überwiegend in den Nachbarländern ausharren. Denn anders als ukrainische Kriegsdienstverweigerer erhalten Russen keinen automatischen Schutz in der Europäischen Union.

Unterschriften an Europäische Kommission gesendet

Das will Rudi Friedrich vom Offenbacher Verein Connection e.V. ändern. Er setzt sich seit längerem dafür ein, Deserteuren aus Russland und auch Belarus in Deutschland Asyl zu gewähren. Am Montag übergab er deshalb mit Mitstreitern in Berlin fast 50 000 Unterschriften an die Europäische Kommission.

Es wäre einfach, russischen Kriegsdienstverweigerern dieselben humanitären Visa auszustellen, wie sie etwa Aktivisten bekommen, sagt Maria von der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer, die sich seit 2014 für Männer einsetzt, die nicht in die Armee wollen. Das wäre ein außerordentlich wichtiges Signal an russische Kriegsdienstverweigerer. Denn der Krieg, den immer noch die Mehrheit der russischen Bevölkerung unterstützt, ändert zunehmend das Verhältnis zur Armee. So sieht zwar jeder dritte Mann laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts vom November 2022 den Dienst in der Armee als Pflicht für das Vaterland an, aber nur jeder zweite Russe sieht darin eine Bestätigung seiner Männlichkeit. Vor dem Krieg waren es noch 61 Prozent.

Verhältnis zur Armee ändert sich

Vor allem in der Provinz galt die Armee lange Zeit als Garant für finanziell Sicherheit und sozialen Aufstieg, erklärt Maria im Gespräch mit »nd«. Töten und getötet werden wollen allerdings die wenigsten. Sie berichtet, dass immer wieder Mobilisierte und Berufssoldaten an der Front gegen den Kriegseinsatz protestieren, indem sie Befehle verweigern oder ihre Posten nicht besetzen. Wer sich weigert, kommt in ein Lager. Mindestens 13 davon hat die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer bei Luhansk und Donezk ausfindig gemacht. Zwei davon wurden mittlerweile geschlossen. Aber Maria ist sich sicher, dass es längst neue gibt.

Auf Desertierung stehen in Russland in Friedenszeiten sieben Jahre Haft, während der Mobilisierung sogar 15 Jahre. Ab und zu schaffen es Berichte über Männer, die geflohen sind, in die russischen Medien, die das Thema ansonsten sehr klein halten. Nach Recherchen von Mediazona standen im vergangenen Jahr 1001 Männer vor Gericht, weil sie ihre Einheit verlassen hatten. Die Verhandlungen finden teilweise als Schauprozess statt, um andere Soldaten einzuschüchtern. Mit mäßigem Erfolg. Bis Anfang Mai 2023 gab es bereits 1053 Gerichtsverfahren gegen Verweigerer und Deserteure und die Zahlen steigen rasant an. Auffällig dabei: Statt hoher Haftstrafen kommen die meisten mit Bewährung davon, damit sie wieder an die Front geschickt werden können.

Kaum Fluchtmöglichkeiten für Deserteure

Und selbst wer erfolgreich aus der Armee fliehen kann, weiß oft nicht wohin. In Russland können sich Verweigerer nicht verstecken, erklärt Maria. Selbst die Nachbarländer, die hunderttausende Russen aufgenommen haben, sind nur bedingt sicher. So wurde Anfang April ein Major des Föderalen Sicherheitsdienstes im armenischen Jerewan festgenommen, der nach Beginn der Mobilisierung geflohen war.

Oleg und Pawel, die beide wenige Tage nach Beginn der Mobilisierung nach Berlin kamen, hoffen, in Deutschland menschlicher behandelt zu werden. Bei der Deutschen Welle hatten die jungen Männer aus St. Petersburg und Perm gelesen, die Bundesregierung sei bereit, Kriegsdienstverweigerer aus Russland aufzunehmen, sagen sie zu ihrer Entscheidung, nach Deutschland zu fliehen. Im September erklärten sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser grundsätzlich offen, Männern aus Russland Asyl zu gewähren. »Ich hatte gehofft, dass die Worte solch hoher Politiker Gewicht haben und man ihnen trauen kann«, sagt er sichtlich betrübt. Und er hoffte, dass die Bundesregierung agiert wie 2015 und die Männer nicht zurückschickt.

Deutsche Politiker lehnen Russen ab

Doch schon im September 2022 gab es laute Stimmen, russischen Männern die Tür vor der Nase zuzuknallen. Im Deutschlandradio nannte der Geschäftsführer der Bündnisgrünen, Omid Nouripour, alle russischen Männer geschichtsvergessen »KGB-Agenten« und begrub die humanistische Außenpolitik seiner Partei endgültig. Vor einem Monat legte CDU-Hardliner Roderich Kiesewetter in einem Deutsche-Welle-Interview noch einmal nach. Deutschland dürfe keine Kriegsdienstverweigerer aufnehmen, da Putin die Visa zum Einschleusen von Agenten nutzen würde, so der Bundestagsabgeordnete. Dass die Botschaft in Moskau kaum noch Visa ausstelle, findet Kiesewetter »absolut richtig«.

Tatsächlich ist es für russische Männer nahezu unmöglich, ein deutsches Visum zu bekommen. Das deutsche Konsulat in Moskau begründet die Ablehnung mit Zweifeln an der Rückkehrbereitschaft, da sie mobilisiert werden könnten. Ein entsprechendes Schreiben liegt »nd« vor.

Noch immer keine EU-Entscheidung

Kirill, Oleg und Pawel sind mit französischen und finnischen Visa nach Deutschland gekommen. In Berlin haben sie bis Anfang 2024 eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Wie es um ihre Asylanträge steht, wissen sie nicht. Gemäß Dublin-Verfahren müsste Kirill eigentlich nach Frankreich und Oleg nach Finnland, doch da will der 28-Jährige nicht hin. Die Stimmung sei dort ziemlich aufgeheizt, sagt er. Außerdem ist Russland zu nah und eine Abschiebung daher sehr leicht. »Die müssen mich einfach nur über den Zaun werfen, das war’s«, meint er. In Finnland selbst warten momentan 1109 Russen auf ihr Asylverfahren, gab die Migrationsbehörde Migri am Donnerstag bekannt. Eine Entscheidung habe man noch nicht treffen können, sagte die Leiterin der Einwanderungsbehörde, Sanna Sutter, weil man die Anweisungen der EU abwarten will. Die kann aber noch dauern. Auch Rudi Friedrich glaubt nicht, dass sich in Brüssel schnell etwas tun wird.

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