Linke in Großbritannien: Keine Zukunft mit Labour

Viele britische Linke wenden sich von der Arbeitspartei ab

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Oberflächlich betrachtet wählte Emma Dent Coad einen unglücklichen Zeitpunkt für ihren Parteiaustritt. Am vergangenen Donnerstag, gut eine Woche nachdem die ehemalige Abgeordnete bekannt gegeben hatte, nach fast 40 Jahren ihre Labour-Mitgliedschaft zu kündigen, errang die Partei ihren größten Wahlerfolg seit langer Zeit. Bei den englischen Kommunalwahlen gewann Labour mehr als 500 Sitze hinzu, zum ersten Mal seit 20 Jahren ist Labour die stärkste Partei in der Lokalpolitik. Umfragen zeigen, dass die Opposition bei der nächsten Parlamentswahl, die wohl 2024 stattfindet, auf einen Sieg zusteuert; der Parteivorsitzende Keir Starmer sieht sich schon als nächster Premierminister.

Das mag alles sein, meint Dent Coad. »Aber gewinnen ist nicht alles.« Die Politikerin sitzt nunmehr als Unabhängige im Gemeinderat von Kensington und Chelsea. Es ist bald sechs Jahre her, dass Dent Coad ein bisschen Geschichte schrieb. Am 9. Juni 2017 gewann sie den Unterhaussitz Kensington für die Labour-Partei, mit einem hauchdünnen Vorsprung von 20 Stimmen. Der Wahlkreis im Westen Londons, der reichste im ganzen Land, war seit jeher tief Tory-blau. Dass die Arbeiterpartei hier gewann, kam einer Sensation gleich.

Auch jenseits von Kensington zählten jene Wochen zu den aufregendsten, die die britische Linke in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Die Labour-Partei unter dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn vermochte im ganzen Land Leute zu begeistern, vor allem jüngere. Das allseits prognostizierte Wahldebakel im Juni 2017 blieb aus: Labour gewann Hunderttausende Stimmen hinzu, die Fraktion wuchs um 30 Abgeordnete.

Doch für die britische Linke ging es seither nur bergab. Gelähmt durch die Brexit-Debatten erlebte eine zerstrittene Labour-Partei im Dezember 2019 ein Wahldebakel, auch Dent Coad verlor ihren Sitz, wenn auch überaus knapp. Wenige Monate danach trat Keir Starmer die Nachfolge Corbyns als Labour-Vorsitzender an. Dent Coad war zu Beginn zuversichtlich: »Starmer versprach, die Politik Corbyns fortzusetzen. Er wollte die Ärmsten stärker unterstützen und die Reichsten stärker besteuern – es war ein gutes Programm«, sagt sie. »Aber dann brach er ein Versprechen nach dem anderen. Heute weiß ich nicht mehr, wofür die Labour-Partei steht.«

Sie selbst habe immer dieselben Ansichten gehabt: »Ich bin eine lebenslange Sozialistin«, sagt sie. »Vielmehr ist es die Partei, die sich verändert hat.« In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Momente, in denen sie sich gefragt habe, ob sie noch in dieser Organisation bleiben wolle. Sie nennt Beispiele. Seit dem vergangenen Sommer ist eine massive Streikwelle im Gang, aber die Parteiführung hält sich demonstrativ in sicherer Distanz zu den Gewerkschaften. »Wenn wir streikende Arbeiter nicht mehr unterstützen, wofür ist denn die Labour-Partei da?« fragt Dent Coad.

Auf die drängenden Probleme habe Starmers Labour keine Antwort. »Wir hatten hier in Kensington und Chelsea in den vergangenen Monaten hungernde Leute – man stelle sich das mal vor! Unseren Essensausgaben sind die Vorräte ausgegangen. Was will Labour dagegen tun? Wir wissen es nicht.«

Auch die von der Parteiführung verfügten Redeverbote sieht sie kritisch: »Auf einmal haben wir eine lange Liste von Themen, über die wir in unserem lokalen Parteiverband nicht mehr diskutieren dürfen. Zum Beispiel, ob Großbritannien die Monarchie abschaffen sollte.« Darüber hätten sie und ihre Kolleg*innen bislang jedes Jahr eine Debatte geführt – und die Abstimmung endete immer mit einer großen Mehrheit für die britische Republik. Auch darf sich der Parteiverband nicht mehr mit Friedenskampagnen wie Stop the War solidarisch zeigen.

Genauso undemokratisch sei die Entscheidung gewesen, Dent Coad in den nächsten Wahlen nicht mehr als Labour-Kandidatin für Kensington antreten zu lassen. Das Führungsgremium der Partei habe sie im Herbst zu einem Interview eingeladen, ihr jede Menge kritische Fragen gestellt, und sie im Anschluss von der Liste gestrichen. »Sie dachten wohl, dass ich gewinnen könnte, aber sie wollten keine Sozialistin in der Fraktion«, sagt sie.

Dent Coads Parteiaustritt hat in den britischen Medien für eine gewisse Aufmerksamkeit gesorgt, aber sie ist bei Weitem nicht die einzige Linke, die Labour desillusioniert den Rücken kehrt. Im vergangenen August zeigten interne Daten, dass die Partei allein im Jahr 2021 über 90 000 Mitglieder*innen verloren hatte.

Lichtblicke sieht Dent Coad jedoch außerhalb der Parteipolitik: »Es ist viel im Gang. Ich war in den letzten Monaten an unzähligen Kundgebungen, Konferenzen, Bildungsevents. Wir debattierten Strategien, wie es weitergehen soll für die Linke.« Sie sehe, wie neue Allianzen geschlossen werden, zum Beispiel zwischen der Friedensbewegung und den Gewerkschaften, meint Dent Coad und resümiert: »Es gibt viele Orte, an denen ich mich derzeit willkommen fühle. Aber nicht in der Labour-Partei.«

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