• Politik
  • Asylrechtseinschränkungen

Pro Asyl: »Rechte für Flüchtlinge nur noch auf dem Papier«

30 Jahre nach dem deutschen »Asylkompromiss« warnt Günter Burkhardt von Pro Asyl vor einer historischen Preisgabe europäischer Grundrechte

  • Interview: Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 6 Min.

Heute vor 30 Jahren wurde der Grundsatz »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« massiv eingeschränkt. Sie haben damals die Proteste mitorganisiert. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Wir hatten damals Brandanschläge mit Toten, einen massiv aufgehetzten rassistischen Mob, der sich austobte. Und die Union machte Wahlkampf: Die Singularität des deutschen Asylrechts sollte beseitigt werden, so trommelte sie über Monate hinweg. Bis die sozialdemokratische Partei eingeknickt ist. Sie war damals in der Opposition, aber für eine Grundgesetzänderung müssen zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages dafür stimmen. Für uns als Pro Asyl war der Schutz politisch Verfolgter ein historisches Vermächtnis infolge der Nazizeit. Unser Sprecher Herbert Leuninger rief am 26. Mai 1993 auf der Demonstration: »Wir sind der Verfassungsschutz.« Als Verbündete hatten wir im Bundestag damals immerhin die Grünen, aber auch Teile der FDP und der SPD.

Interview


Günter Burkhardt
(Jahrgang 1957) ist Gründungsmitglied und langjähriger Geschäftsführer von Pro Asyl. Die Menschenrechtsorganisation hat sich 1986 als »Bundesweite Initiative gegen die Einschränkung des Asylrechts« gegründet. Ulrike Wagener sprach mit ihm über die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl 1993 und die drohenden Einschränkungen des Flüchtlingsschutzes auf europäischer Ebene. Pro Asyl hat eine Unterschriftenaktion gestartet »Wir wollen ein anderes Europa«.

Die damalige Grundgesetzänderung führte einen zentralen Grundsatz des heutigen Asylrechts ein: den sicheren Drittstaat. Demnach hat ein Schutzsuchender kein Recht auf Asyl in Deutschland, wenn er über ein EU-Mitglied oder einen anderen Staat einreist, in dem die Möglichkeit auf einen Asylantrag besteht. Deutschland ist umgeben von »sicheren Drittstaaten«. Heute werden weniger als ein Prozent der Asylanträge positiv beschieden. Warum erhalten trotzdem rund 35 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland einen Schutzstatus?

Mit dem »Asylkompromiss« wurde das Grundrecht auf Asyl seiner Wirkung beraubt. Doch bis heute greifen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention, die Abschiebung in unmenschliche Behandlung verbietet. Jetzt stehen wir vor einer weitaus dramatischeren Situation: Die Europäische Union will das europäische Asylrecht faktisch abschaffen.

Sie meinen die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Seit 2015 wird darüber diskutiert, bisher scheiterte ein Ergebnis an der Verantwortungsverteilung unter den Mitgliedsstaaten.

Bei den aktuellen Verhandlungen geht es um Grenzverfahren, bei denen so getan wird, als sei die Person niemals eingereist. Im Klartext heißt das: Schutzsuchende werden an den EU-Grenzen in Lagern festgesetzt und überwacht. Gleichzeitig will man die Standards für sogenannte sichere Drittstaaten senken, sodass Staaten als »sicher« deklariert werden können, in denen die Genfer Flüchtlingskonvention kein verbrieftes Recht ist und wo nur Teilgebiete angeblich sicher sind. Im Ergebnis könnten Schutzsuchende in Eilverfahren in Staaten verfrachtet werden, wo sie möglicherweise niemals waren, die praktisch keinen Schutz bieten, aber offiziell als sicher deklariert werden – ohne ihre Fluchtgründe individuell zu prüfen. Die Rechte für Flüchtlinge bleiben zwar auf dem Papier bestehen, faktisch kann sie aber niemand mehr in Anspruch nehmen.

Dabei ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht auf faire Verfahren festgehalten.

Das Recht, dass Behördenentscheidungen überprüft werden, ist der Kern eines demokratischen Rechtsstaats. Es ist extrem schwer, wenn Menschen in einem unsicheren Drittstaat abgeschoben wurden, dagegen gerichtlich vorzugehen. Wo kein Kläger, da kein Richter. Und das ist der entscheidende Unterschied zu 1993, wo Deutschland ja Schutzsuchende auf andere EU-Staaten verwiesen hat. Wie will ein Verfolgter, der abgeschoben wurde, etwa in die Türkei oder nach Serbien oder Bosnien, der dort um sein Überleben kämpft, immer auch in der Angst, von diesem Staat aus weiter abgeschoben zu werden, gegen eine Entscheidung eines europäischen Staates vor Gericht ziehen?

Wie wird bestimmt, wer als sicherer Drittstaat gilt?

Das wird im Moment zwischen der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD), der postfaschistisch geführten Regierung Italiens, Spanien, Frankreich und anderen verhandelt. Am 8. Juni soll beim Treffen der EU-Innenminister im EU-Rat die Vorentscheidung fallen. Es sieht bisher bitter aus. Wir appellieren an die grüne Außenministerin Annalena Baerbock und den FDP-Justizminister Marco Buschmann: Treten Sie für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein. Dazu gehört das Recht auf Asyl in der gesamten EU. Wir erwarten, dass sie deutlich machen: Die geplante Reform verstößt gegen den Koalitionsvertrag und hebelt Grundrechte in der EU aus. Diesen Plänen stimmen wir nicht zu.

Im Koalitionsvertrag steht: »Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.« Warum diese Kehrtwende der Bundesregierung?

Niemand bei Pro Asyl hätte das von einer Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP erwartet. Aber offenbar ist die Ampel bereit, die Europäische Union als Raum der Freiheit und des Rechts preiszugeben, um mit Rechtspopulisten in der EU einen Deal zu machen. Außerdem scheinen Scholz und Faeser getrieben von den Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Sie machen Wahlkampf, indem sie Härte zeigen gegen Menschen, die vor Krieg, Terror und Verfolgung fliehen. Aber die historische Erfahrung zeigt: Wenn man Rechtspopulisten und Rassisten nachgibt, macht man sie nur stärker.

Vor den Asylrechtseinschränkungen vor 30 Jahren gab es große Proteste. Warum ist es heute so still?

Die Wirkung von Gesetzesänderungen dringt erst dann in das Bewusstsein der Menschen ein, wenn sie erfahrbar sind. Was auf europäischer Ebene verhandelt wird, ist so verklausuliert und in einer komplizierten juristischen Sprache verfasst, dass es kaum zu durchschauen ist. Menschen denken, Grenzverfahren seien einfach nur schnellere Asylverfahren. Doch das wird nicht der Fall sein. Asylanträge werden mit Verweis auf einen angeblich sicheren Drittstaat als »unzulässig« zurückgewiesen.

Liegt es auch daran, dass die NS-Zeit 1993 noch näher dran war?

Die Erinnerung, dass etwa prominente Sozialdemokraten nur überlebt haben, weil sie geflohen sind, und es Staaten gab, die sie aufgenommen haben, war etwa in der Sozialdemokratischen Partei noch sehr präsent. Das vermisse ich heute, dass sich in CDU, CSU, FDP, SPD, Grünen verantwortliche Politikerinnen und Politiker daran erinnern und für das Menschenrecht auf Asyl eintreten. Der Wert eines Rechts auf Asyl droht in Vergessenheit zu geraten in der Illusion, dass die Demokratie auf Dauer Bestand hätte. Es ist eine sehr trügerische Sicherheit, in der sich viele Menschen wähnen, auch Spitzenpolitiker*innen. Die Gefahr ist, dass die Demokratie durch die Preisgabe der elementaren Grundsätze erodiert und dann die Hülle von autoritären, demokratiefeindlichen Parteien gekapert wird, wie wir es jetzt schon in einigen EU-Staaten sehen.

Was könnte man jetzt dagegen tun?

Wir rufen dazu auf, öffentlich sichtbar dagegen zu protestieren. Am Freitag organisieren wir eine Demonstration in Berlin. Hier geht es nicht nur um Geflüchtete und das Asylrecht. Wir sind in einer – wie nennt es der Bundeskanzler so schön? – Zeitenwende. Das bedeutet, dass in der Ukraine Krieg herrscht, dass in Syrien, in Afghanistan und in der Türkei ein Verfolgungsdruck herrscht, der immens ist. Die EU steht vor der historischen Entscheidung: Erhalten Verfolgte Schutz und zeigt dieses Europa Flagge als Staatengemeinschaft, die Demokratie und Menschenrechte hochhält.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.