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Rahel Jaeggi und der Geist des Pragmatismus
Die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi will an die Kritische Theorie anknüpfen. Aber sie gelangt bei einem unkritischen Pragmatismus an
Die sokratische Frage danach, auf welche Weise man leben solle, lässt sich sinnvoll nur stellen, weil die menschliche Lebensform im Gegensatz zur tierischen auf keine bestimmte Tätigkeit und keinen bestimmten Wirkungskreis hin festgelegt ist. Tiere oder auf Künstlicher Intelligenz basierende Systeme stellen nicht nur die Frage nach dem guten Leben nicht, sie stellen überhaupt keine Fragen. Fragen nämlich setzen eine Absicht voraus, ein Interesse, sich zu den eigenen Lebensbedingungen in ein Verhältnis zu setzen, um sie zu verstehen, uns von ihnen zu distanzieren oder sie vielleicht zu verändern. Einem Schachroboter kann sein »Tun« nicht befremdlich oder fragwürdig werden – er spuckt aus, was ihm aufgetragen worden ist: die besten Schachzüge – und eine Biene fragt sich nicht, ob es richtig oder angemessen ist, Blütenstab zu sammeln oder die Königin zu beschützen. Als Menschen hingegen können wir uns auf eine Suche begeben, in ein bewertendes, fragendes, verstehendes Verhältnis zu den Verhältnissen treten, in denen wir uns befinden und aus diesem Grund gibt die Rede vom guten, vom gelingenden oder aber vom falschen, entfremdeten Leben auch nur für uns – Sinn.
Die Lehre vom guten Leben gehört innerhalb der Philosophie dem Bereich der Ethik zu und es gibt gute Gründe, hier vor Eintritt zu zögern oder gar vollständig halt zu machen: Nicht nur ist die Frage berechtigt, ob sich überhaupt allgemeine Kriterien für eine solche Bestimmung »des« guten Lebens finden lassen, sondern auch, ob angesichts der überpersonalen gesellschaftlichen Logik, die uns alle auf je eigene Weise und in je eigenem Ausmaß in ein bestimmtes Leben einbindet – ob also angesichts dieser Kräfte die Idee eines zur selbstbestimmten Lebensführung fähigen Individuums nicht an sich selbst schon sentimental, vielleicht romantisch ist.
Allein, so schwierig, ja vielleicht unmöglich die sokratische Frage heute geworden zu sein scheint, so sehr bleibt sich ihr zu widmen doch auch zugleich notwendig. Sozialphilosophie kann nicht nur, sollte, muss sich hier einmischen; sie betreibt unweigerlich immer auch Ethik, ist ethisch betrachtet niemals neutral.
Dies ist die These, von der Rahel Jaeggi in ihrer »Kritik der Lebensformen« den Ausgang nimmt. Seit 2009 ist sie Professorin für Praktische Philosophie mit den Schwerpunkten Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet dort das Center for Humanities and Social Change. Seit der Veröffentlichung ihrer beiden Bücher – der Dissertation zum Thema »Freiheit und Indifferenz. Versuch einer Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs« (erstmals erschienen 2005) und ihrer Habilitationsschrift zur »Kritik von Lebensformen« (2013) – gilt sie als die zeitgenössische Vertreterin der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und genießt internationale Bekanntheit. Die Wirkung ihrer Schriften zeugt von dem Bedürfnis, das ihnen entgegenkommt: der Sehnsucht nach einer kritischen Theorie, die sich »große Fragen« zutraut und pragmatische Lösungen dafür anbietet.
Warum wir uns ethischer Betrachtungen nicht enthalten können
Jaeggis Argumentation ist triftig: Die Geste der Enthaltsamkeit, mit der behauptet wird, die Pluralität der Lebensformen in modernen Gesellschaften stelle keinen Gegenstand philosophischer Diskussion dar, jedem und jeder müsse hierüber selbst die Entscheidung gelassen werden, übersieht zu leichtfertig, dass es kaum einen politischen oder sozialphilosophischen Bereich gibt, der nicht schon implizit irgendeine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben voraussetzen würde. Gerechtigkeits- oder Verteilungsfragen, Debatten über das Bildungssystem, die Klimakrise, Wohnraum oder das Renteneintrittsalter – indem wir über all das diskutieren, treffen wir immer schon bestimmte Vorannahmen darüber, was uns im Leben als wichtig gilt. Umgekehrt ist jene Sphäre des Privaten, von der wir gerne behaupten, ihre Gestaltung sei doch eigentlich jeder und jedem selbst überlassen, bis ins Kleinste hinein präformiert. Sie ist gestaltet eben durch die Verfasstheit unserer Gesellschaft, also bestimmt dadurch, welche Räume diese öffnet und welche sie schließt, welche sie zu öffentlichen und welche sie zu privaten erklärt, welche Zeiten sie freigibt und welche sie bindet, was in ihr zählt und wer oder was als wertlos gilt. Unser Leben »formen«, ihm eine Gestalt verleihen können wir offensichtlich je nur innerhalb überpersonaler gesellschaftlicher Zusammenhänge.
Jaeggi will eine kritische Sozialphilosophie entwerfen, welche die Frage nach dem guten Leben auf eine solche Weise einholt und formalisiert, dass sie weder hinter den ethischen Pluralismus der Moderne zurückfällt noch in einen Individualismus mündet. Gegen die ethisch-liberale Enthaltsamkeit vertritt sie die Auffassung, dass sich über Lebensformen – solche Gebilde, die unser je eigenes Leben formen – mit Gründen streiten lasse. Und gerade solche Gründe, eine verlässliche Form der Begründung, die einem Diskurs wieder als Fundament und Maßstab dienen könne, will sie anbieten: eine Theorie, mit deren Hilfe und in Rückgriff auf welche eine Kritik an Lebensformen möglich sein soll. Sie nennt dieses Vorhaben eine »kritische Theorie der Kritik von Lebensformen«.
In Sprache, Stil und Methode weicht Jaeggi freilich von der Tradition, in die sie sich stellt, erheblich ab. Von ihr erhalten wir Definitionen, vermeintlich schwierige Sachverhalte auf einfache Formeln zurechtgeschnitten, Begriffsübersichten. Ihre Texte fließen im Tonus der Reibungslosigkeit, man gleitet durch die Zeilen, nichts irritiert, nichts hält auf; keine Störung, kein Pathos, rein gar nichts, was die analytische Nüchternheit irgendwie, irgendwann durchbräche. Alles klingt unheimlich wissenschaftlich, derart wissenschaftlich, dass – dies scheint die Hoffnung zu sein – sich damit besser und »zeitgemäßer« argumentieren lässt als mit jenen alten linken, marxistischen Formeln, bei deren Verwendung man sich ja ab und an bereits selbst dabei ertappt, sich irgendwie aus der Zeit gefallen zu fühlen. Der Diskurs soll geöffnet werden.
Doch dämmert dem Bewusstsein, dass sich an der Form bereits etwas über den Inhalt offenbart, ja, dass am Ende das Prinzip der Form demjenigen des Inhalts vielleicht gar sehr verwandt ist und womöglich immer da, wo von der Kritik der Lebensformen am meisten gesprochen wird, diese Rede sich am reibungslosesten in dasjenige einfügt, was ohnehin schon ist – ins »Immerschon« (Özmen). Was bedeutet es also, dass Jaeggi den Diskurs öffnet? Schauen wir uns diese »Öffnung« einmal näher an.
Jaeggis Dissertation über den Begriff der Entfremdung
Der Begriff der Entfremdung steht sowohl in einer sozialphilosophischen Tradition, die an Hegel und Marx anschließt, als auch in einer existenzialistisch-phänomenologischen Theorielinie, die von Kierkegaard bis zu Sartre führt. Beide Traditionslinien verstehen ihre Diagnose, dass der Mensch der Moderne sich von sich selbst entfremdet habe, als Zeitkritik. Für die Vertreter*innen der Ersteren – und in ihre Tradition stellte sich die frühe Kritische Theorie – ist charakteristisch, dass sie das Janusgesicht der aus dem Blickwinkel der Aufklärung zumeist nur als Fortschritt erscheinenden Umbrüche betrachten.
Ja, die Auflösung der alten Gesellschaftsordnungen, die Infragestellung überkommener Autoritäten und Glaubenssysteme sowie die Etablierung einer Sphäre des freien Warenverkehrs hatten durchaus ein befreiendes Moment. In der Geschichte der Verwirklichung menschlicher Freiheit stellt es einen Fortschritt dar, dass jedes Individuum – immerhin auf dem Papier – unabhängig von Herkunft und damit verbundenen Privilegien, als Rechtsperson zählt. Und doch ist der Freiheitsgewinn von Beginn an zwiespältig; er wird begleitet von dem zunehmenden Verlust einer verbindlichen Sphäre an kollektiv praktizierten, lebensweltlichen Übereinkünften. Die gesellschaftlichen Bande – persönlicher, feudaler, religiöser, sittlicher Art – wirkten nicht nur einschränkend, sondern gewährten auch alltägliche Sicherheiten.
Die desintegrativen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft, die Spaltung in immer weiter in Armut und Reichtum auseinanderdriftende Klassen, die Deklassierung jener, die aufgrund der vermeintlichen Wertlosigkeit ihrer Lebenstätigkeit aus allen Rastern fielen, die Irrationalität und Krisenanfälligkeit der Produktionslogik, die Herabsetzung der Natur zum bloßen Material der Verwertung – all das wurde im Fahrwasser des Fortschritts zu leichtfertig übersehen. So unterschiedlich die Akzentuierungen, Begründungen oder Hoffnungen der genannten Theoretiker*innen gewesen sein mögen, gemeinsam war ihnen die Einsicht, dass diese Art der Entfremdung jenseits der Verfügungsgewalt oder des Gestaltungsraums einzelner Individuen lag. Es handelte sich um ein Verhältnis, das ihnen gesellschaftlich vorausging, in das sie systematisch und in steigendem Ausmaß hineingedrängt wurden und das sich bis ins Innerste ihres Daseins hinein perpetuierte, ja unter die Haut ging, zur Natur wurde.
In ihrer Dissertation unternimmt Rahel Jaeggi den Versuch, diese entfremdungstheoretischen Ansätze wieder aufzunehmen, um den Grundbegriff der Entfremdung aus ihnen herauszulösen und für sich genommen als Analyseinstrument zu betrachten, ihn auf seine Tauglichkeit für heutige Phänomene hin zu überprüfen. Sie enthält sich dabei jedweder Positionierung zu jener Zeitdiagnose, von der die Entfremdungstheorien ihren Ausgang nahmen; sie nutzt den Entfremdungsbegriff noch nicht einmal dazu, um selbst eine Gesellschaftskritik zu formulieren. Stattdessen geht es ihr darum, den Begriff als Instrument der Kritik zu »rehabilitieren«. Und zwar so, dass dabei nicht länger feststehende, allgemeingültige Substanzen und Definitionen von Menschlichkeit ausschlaggebend seien – ein essenzialistisches Vorgehen, das sie den früheren Entfremdungstheorien unterstellt –, sondern der Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen in den Blick gerate.
Nach Jaeggi ist Entfremdung zu verstehen als eine »Beziehung der Beziehungslosigkeit«. Anhand von vier Fallbeispielen schildert sie in ihrem Buch Lebenssituationen, in denen Personen Erfahrungen dieser Art beschreiben. Vier verschiedene Typen von Entfremdungen will sie mithilfe folgender Beispiele unterscheiden: Erstens, ein junger Wissenschaftler, der mit seiner Verlobten in den Vorort einer Großstadt zieht, fühlt sich in seinem zunehmend biederen und ereignislosen Alltagsleben nurmehr als passiver und ohnmächtiger Teilnehmer. Zweitens, ein Junglektor ahmt das Verhalten seines Chefs auf überzogene und künstlich wirkende Weise nach. Drittens, eine Feministin, die dem Ideal einer emanzipierten Frau nacheifert, ertappt sich dabei, wie sie in Anwesenheit ihres Partners kindisch kichert. Viertens, der Linguistikprofessor Perlmann aus Pascal Merciers Roman »Perlmanns Schweigen« verliert das Interesse an seiner Arbeit.
Jaeggi empfiehlt ihren fiktiven Beispielpersonen, sich »problemoffen«, »beweglich« und »aufnahmefähig« im Umgang mit Rollenerwartungen und Konflikten zu halten, sich nie zu sehr, aber immer ein wenig mit der jeweils eingenommenen Rolle zu identifizieren, Handlungsspielräume offen zu lassen, sich ständig neu zu interpretieren und den jeweiligen Anforderungen gemäß zu modifizieren. Um Entfremdungserfahrungen entgegenzuwirken, gelte es einzusehen, »dass man der Welt Bedeutung selbst geben muss«. Die individualistische Tendenz dieser Vorschläge, mit denen die Verantwortung für das gute Leben an die Betroffenen delegiert wird, konnte Jaeggi offensichtlich selbst schwer von der Hand weisen. Daher endete ihr Entfremdungsbuch mit der Ankündigung, den methodologischen Individualismus, in den sie hineingeraten war, zugunsten einer entfremdungstheoretisch inspirierten Sozialkritik überwinden zu wollen. Die Frage lautet nun: Welche sozialen Verhältnisse und Institutionen verursachen und forcieren Entfremdungsphänomene? Wie müssten diese verfasst sein, um immerhin die Möglichkeitsbedingungen eines nicht-entfremdeten Lebens zu gewährleisten?
Lebensformen als Problemlösungsstrategien
Diese Problemstellungen bilden die Ausgangslage der »Kritik von Lebensformen«. Die moderne, liberale Form westlicher Staaten gründet sich auf einer konstitutiven Trennung von Staat und Gesellschaft. Die politische Organisation setzt zwar rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen, aber beteuert dabei, sich nicht in die Weise einmischen zu wollen, wie wir unsere Leben gestalten, woran wir glauben, was wir konsumieren, was wir unter Glück verstehen. Das aber bedeute nicht, so Jaeggi, dass sich über Fragen der Lebensform nicht ebenso streiten ließe wie über moralische Fragen oder Fragen der Gerechtigkeit, denn auch von Lebensformen könne man begründetermaßen sagen, ob diese »gelingen« oder »misslingen« würden. Hierfür will sie Maßstäbe bereitstellen und dies auf eine solche Weise, dass zugleich die Pluralität von Lebensentwürfen gewahrt bleibe.
Ihr Vorschlag: Lebensformen, das sind »Ensembles sozialer Praktiken«, die sich historisch und kulturspezifisch entwickelt haben und in unsere Gewohnheit übergegangen sind. Nicht also geht es um individuelle Lebensweisen oder Lebensstile, sondern um Zusammenhänge von Praktiken, die wir über einen längeren Zeitraum hinweg miteinander teilen, in die wir mit gewissen Erwartungshaltungen eintreten und durch die wir uns einem Kollektiv zugehörig fühlen. Lebensformen gehen mit institutionellen oder materiellen Erscheinungsformen einher – Eheleute etwa schließen einen Vertrag ab, sie erhalten eine Eheurkunde, für deren Ausstellung bestimmte Behörden zuständig sind –, die, obwohl wir sie häufig als pure Gegebenheiten wahrnehmen, doch gestaltbar bleiben. Als Beispiele für Lebensformen werden Familienmodelle, Erziehungspraktiken, das Leben auf dem Land oder in der Stadt genannt, die Weise, wie wir wohnen, ob wir ins Theater gehen oder den Fernseher vorziehen oder die Lebensform der Wissenschaft, des »Managers« oder »Proletariers« und schließlich auch die kapitalistische Lebensform im Allgemeinen (die verschiedene kleinteiligere Lebensformen unter sich fasst).
All diese Formen lassen sich, so Jaeggi, in Hinsicht auf ihre Funktionalität betrachten und bewerten. Sie sind auf ihre Sachlichkeit hin befragbar. Lebensformen sind Problemlösungsstrategien, Antworten auf Probleme. Und derlei Antworten kann es jede Menge geben. Für Jaeggi gilt: Die Pluralität von Lebensformen ist ein Modus der »Konkurrenz« um die beste Lösung. Und eine solche Konkurrenz, ein solches »Rivalisieren« unterschiedlicher Lebensformen, kann insbesondere dann produktiv werden, wenn Krisen und Konflikte uns über die Unzulänglichkeit althergebrachter Problemlösungen informieren. Der Beleg dafür, dass es sich bei einer Lebensform offenbar nicht um die richtige oder gute handle, liegt somit darin, dass sie nicht funktioniert. Was nicht funktioniert, muss geändert werden – solange jedoch wie es funktioniert, funktioniert es auch gut (»Funktionieren und gut funktionieren ist … dasselbe.«).
Es scheint so, als hätten wir uns zu Beginn dieses Artikels also vertan. Vielleicht hätte uns doch auch eine Künstliche Intelligenz zu eben dieser Antwort auf die »Frage« nach dem guten Leben führen können: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir miteinander sein, uns lieben, unsere freie Lebenszeit verbringen, wie uns bilden, wohnen, wie arbeiten? So, dass es die Probleme, die sich uns stellen, löst.
Freiheit? Gleichheit? Eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft? »Rette sich, wer kann!« Bloß nichts von außen her an die Lebensformen als Maßstab anbringen. Der ethischen Enthaltsamkeit lässt sich offensichtlich dann am allerbesten etwas entgegensetzen, wenn man sich auch selbst einer Ethik enthält. Immerhin ist man auf diese Weise nicht mehr paternalistisch – man stellt ja der Realität keine Theorie mehr gegenüber, an der sie sich messen und bewähren müsste, sondern überlässt ganz einfach ihr selbst das Wort. Adorno nannte die Geste dieser Art von Theoriebildung eine Ideologie der Ideologielosigkeit oder den Schleier der Schleierlosigkeit: Das eigene Realitätsprinzip zur Schau stellend deklariert man, die »alten Erzählungen« und Ideale hinter sich gelassen zu haben und etabliert so, unbemerkt, die Ideallosigkeit selbst als Ideal.
Mit ihrer Kritik von Lebensformen schreitet Jaeggi nicht fort zu einer Kritik, sondern zu einer Theorie des Bestehenden – sie schreitet also nicht fort, sondern hinter das Entfremdungsbuch zurück. Denn der Pragmatismus, zu dem sie als Maßstab der Beurteilung von Lebensformen findet, ist in der Tat, mit Hegel zu sprechen, der objektive Geist unserer Zeit. Jaeggis Theorie erweist sich als Absolution einer Haltung, gemäß der sich die Richtigkeit des Handelns nach dessen Erfolg bemisst – danach ob es sich am Ende durchsetzen kann. Sie gibt ganz einfach dasjenige als »Leben« aus, in dem wir ohnehin feststecken: Die Nöte des Alltags meistern, Lösungen für Probleme suchen, »steuern«, »gegensteuern« (wie sie es nennt), dabei nicht verrückt werden, dabei den Halt nicht verlieren, von einem »Um-zu« zum nächsten »Um-zu« rennen.
Die Öffnung des Diskurses – oder seine Schließung?
Die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi knüpft ihrem Selbstverständnis nach an die Kritische Theorie an und beabsichtigt, diese weiter zu entwickeln. Die Aufgabe, die sich dem Kreis an Theoretiker*innen und außerakademischen Schriftsteller*innen um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer seit den 1930er Jahren stellte, bestand angesichts der damaligen politischen Entwicklungen maßgeblich im Überdenken und in einer Reinterpretation des Marxismus: Die Hoffnung, dass sich die kapitalistische Produktionsweise vermittels ihrer eigensten Entwicklungsdynamiken selbst zugrunde richten würde, an ihrer Stelle ein Weg gefunden werden könnte für die Bedürfnisbefriedigung aller anstatt für die Profitmaximierung weniger zu sorgen, für ein System, dass es den an ihm teilnehmenden Dingen und Personen erlauben würde, zu sein, was sie nun einmal sind oder sein wollen, nämlich: keine Waren – diese Hoffnung hatte sich zerschlagen und stattdessen die Unvernunft Einzug gehalten. Die einzige unbeschadete »Lebensform«, die aus all dem am Ende triumphal hervorging – ja, der Meister der Problemlösungen – erwies sich schließlich als der Kapitalismus höchst selbst.
Kritische Theoriebildung wollte bewusst parteiisch sein – nicht wertneutral, nicht funktionalistisch –, sie klagte das Unrecht an: Nicht allein das Unrecht einzelner Gruppen und Klassen, die am Wohlstand nicht partizipierten oder zur niedrigsten Lohnarbeit gezwungen oder als nutzlos ausgesondert wurden, war ihr Gegenstand der Kritik, sondern das universale Unrecht einer Gesellschaftsordnung, welche Zwecke und Mittel verkehrte, Notwendigkeit, Wachstum und Sachzwang über die Würde von Mensch und Natur erhob. In diesem Sinne musste Kritische Theorie denn auch ihrer eigensten Absicht nach unzeitgemäß sein. Sie sprach noch dann vom Falschen, als der spätkapitalistisch abgesicherte Alltagsverstand begann, sich mit seinen Abhängigkeiten zu arrangieren, es sich darin behaglich zu machen. Sie versuchte den Hunger nach einem anderen Leben zu verteidigen inmitten hegemonialer Sättigung. Rahel Jaeggis Theorie ist unzeitgemäß, weil sie – just in einer Zeit, in welcher dieser Hunger vielleicht hegemonial werden könnte – sich mit dem zufriedenstellt, was ist, anstatt nach dem zu greifen, was sein soll.
Jaeggis Theorie hat ihre Berechtigung, sie trifft auf ein Bedürfnis, ihr entspricht eine Stimmung. An ihr lässt sich unheimlich viel über unsere Gegenwart und die Gegenwart an unseren Universitäten ablesen. Dass dasjenige, was am Ende funktioniert, nur allein deswegen, weil es funktioniert, Recht behalten soll – das darf und soll man gerne als Pragmatismus benennen und als solchen lehren. Der Pragmatismus hat seinen Platz und diesem Platz mangelt es nicht an Anerkennung und Renommee. Nur verwechseln sollte man ihn nicht. Man sollte nicht so tun als sei er etwas anderes als das, was er ist – als sei er kritische Theorie.
Helen Akin promoviert in der Philosophie zur Dialektik der Entfremdung bei Marx und Adorno und arbeitet als Lehrbeauftragte sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Jena und Leipzig.
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