Mühsamer Weg zu mehr Chancengleichheit

Frankreichs Bildungsministerium will »soziale Mischung« an den Schulen fördern

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Der renommierte Historiker Pap Ndiaye, der bei der Regierungsbildung vor einem Jahr überraschend zum Bildungsminister ernannt wurde, gehört keiner Partei an und war ganz ohne Erfahrungen in der Politik. Ob er inzwischen schon bereut, das Amt angenommen zu haben, lässt er sich nicht anmerken. Dass es ihm nicht leicht fällt, sich durchzusetzen, ist aber nicht zu übersehen. Sein großes Anliegen, über das er erstmals im vergangenen September öffentlich gesprochen hat und das inzwischen konkrete Formen annimmt, ist die soziale Mischung an den Schulen. Sie sei die »Voraussetzung für den Erfolg jedes Schülers« und ein Mittel für die Schulen der Republik, »ihr Versprechen der Chancengleichheit einzulösen«, betont der Minister.

Doch das wird ein mühsamer Prozess. Am hinderlichsten ist wohl das zögerliche Verhalten vieler Schuldirektoren wie auch zahlreicher Beamter in seinem eigenen Ministerium. Schon etliche Vorgänger auf diesem Ministersessel haben sich vorgenommen, durch gezielte Maßnahmen die Chancengleichheit zu fördern, doch durch den hinhaltenden Widerstand an der Basis ist dieses Vorhaben meist bald wieder versandet. Ob Pap Ndiaye jetzt mehr Erfolg hat, bleibt abzuwarten. Das Ziel ist jedenfalls klar.

Es geht darum, auch Schülern aus sozialen Problemvierteln die Türen zu Schulen in gutbürgerlichen Vierteln zu öffnen und ihnen damit bessere Aussichten für einen guten Schulabschluss und später ein erfolgreiches Studium zu verschaffen. Bei den öffentlichen Schulen verlässt sich der Minister auf die Rektoren der Akademien, also der verschiedenen Schulkreise, die er Mitte Mai aufgefordert hat, »die Unterschiede in der sozialen Rekrutierung zwischen öffentlichen Schulen bis 2027 um 20 Prozent zu verringern«. Dabei sollen sie sich durch einen »Werkzeugkasten« mit Ideen inspirieren lassen, die das Ministerium vorschlägt, um die soziale Durchmischung der verschiedenen Schulen zu fördern. So soll verhindert werden, dass sich weiterhin die Kinder aus ärmeren Verhältnissen in den Schulen der »Problemviertel« konzentrieren, was dort natürlich das Niveau drückt.

Außerdem sollen auch Eliteschulen veranlasst werden, benachteiligte Schüler aufzunehmen. Mit dem Dachverband der Privatschulen hat der Minister in der vergangenen Woche ein Protokoll unterzeichnet. Dabei verpflichtete sich das Generalsekretariat des katholischen Bildungswesens SGEC, die Zahl der Schulen, die ihre Tarife nach den Einkommensverhältnissen der Familien staffeln, innerhalb von fünf Jahren um 50 Prozent zu erhöhen und den Anteil der Schüler, die aufgrund ihrer Herkunft aus besonders armen Familien ein staatliches Stipendium bekommen, zu verdoppeln. Doch der Minister hat keine verbindlichen Verpflichtungen verlangt, obwohl er am längeren Hebel sitzt, denn schließlich bekommen die – zumeist katholischen – Privatschulen das Geld für die Bezahlung ihrer Lehrer vom Staat.

Pap Ndiaye kann von Emmanuel Macron wenig Unterstützung erwarten, denn für den Präsidenten gehörte die stärkere soziale Mischung nie zu den Schwerpunktvorhaben. Da das Regierungslager in der Nationalversammlung nur über eine relative Mehrheit verfügt, ist es bei Gesetzesvorhaben auf die Unterstützung der rechten Oppositionspartei der Republikaner angewiesen. Doch die sind vehemente Verteidiger der Privatschulen.

Unterdessen wird seit 2016 an einem Katalog mit Indikatoren für die soziale Stellung gearbeitet, mit dessen Hilfe statistisches Material über die soziale Zusammensetzung der Schüler bestimmter Schulen und der umliegenden Viertel, aus denen sie kommen, gewonnen wird. Davon ausgehend sollen die örtlichen Schulbehörden für jede Schule konkrete Ziele vorgeben. Ende vergangenen Jahres wurde eine Zwischenbilanz mit Zahlen von Schulen gezogen, die in einem Schulbezirk des Departements Haute-Garonne an einem Großversuch zur stärkeren sozialen Mischung teilgenommen haben.

Dabei waren selbst Experten überrascht über die »schulische Segregation auf niedrigstem Niveau«, die in vielen Schulen zu beobachten war, und über die positiven Ergebnisse von Maßnahmen gezielter »Durchmischung«. Dabei haben sich für viele Schüler aus benachteiligten Verhältnissen die Bedingungen und die schulischen Ergebnisse verbessert, ohne dass dadurch die Schüler aus der oberen sozialen Schicht benachteiligt wurden. Doch die wichtigste Erkenntnis war wohl, dass die größere Durchmischung bei allen Schülern den sozialen Zusammenhalt, das schulische Selbstwertgefühl und ein Gefühl des Optimismus stärkt.

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