System Polizei: 50 Shades of Dreck

Obwohl der Fall von Bahar Aslan als Rassismus-Problem verstanden wird, offenbart er noch viel mehr, meint Olivier David

  • Olivier David
  • Lesedauer: 3 Min.

Als Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule und bis vor einigen Tagen Dozentin der Polizeihochschule Gelsenkirchen, am 20. Mai einen Tweet auf der Nachrichtenplattform Twitter schreibt, weiß sie noch nicht, was in den kommenden Tagen über sie hereinbricht. Sie schreibt: »Ich bekomme mittlerweile Herzrasen, wenn ich oder meine Freund*innen in eine Polizeikontrolle geraten, weil der ganze braune Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden uns Angst macht. Das ist nicht nur meine Realität, sondern die von vielen Menschen in diesem Land.«

Olivier David
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Nach diesem Tweet folgt eine rechte Empörungswelle. Erst berichtete der Focus, dann poltert die Polizeigewerkschaft. Aslan bekommt Hassnachrichten, schließlich verliert sie den Job als Dozentin an der Polizeihochschule. Somit ist der Fall einerseits ein Paradebeispiel erfolgreicher rechter Cancel-Culture, andererseits kann man über diesen Fall mehr erklären als einen abwehrenden Umgang einer Gesellschaft mit Kritik an rassistischem Verhalten.

Wer diesen Skandal bloß auf Rassismus in Polizei und Gesellschaft zurückführt, verkürzt das Problem. Wenn Aslan vom »ganzen braunen Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden« spricht, trägt sie selbst dazu bei, die Probleme, die unsere Gesellschaft – und insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, People of Color, Frauen, Queers und Arme – mit der Polizei haben, auf Rassismus zu reduzieren.

Historisch ist die Polizei jedoch mit der Aufgabe verknüpft, arme Menschen zu disziplinieren, zu verfolgen und in Armenhäuser zu sperren. Dort wurden sogenannte Landstreicher, Wohnungslose und andere an den Rand gedrängte Menschen, oftmals, nachdem ihr Grund und Boden enteignet wurde, zur Zwangsarbeit verdonnert. Die Gründung der Polizei ist untrennbar mit dem Gedanken verbunden, die Arbeitskraft mittelloser Menschen für den Gewinn einiger weniger Reicher auszubeuten. Auch heute noch bleibt eine wesentliche Funktion der Polizei sowie der ihr vorgeschalteten Gerichte und des Rechtssystems nicht das Herstellen von Gleichheit, sondern die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse.

Wenn es um die Bekämpfung von Drogen geht, sehen wir, dass es in der Strafverfolgung einen riesigen Fokus auf die sogenannten kleinen Fische gibt – kurz: die Straßendealer. In Hamburg gibt es dazu eine Einheit, deren Name »SoKo Frontdeal zur Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität« lautet. Es geht ihr nicht um Drogen an sich, es geht ihr um die Verfolgung der Menschen, die in der Öffentlichkeit damit zu tun haben. Es geht ihr also um arme Menschen. Jeder, der genügend Geld hat, bestellt den Dealer zu sich nach Hause und hat kaum etwas zu befürchten.

Die Kampagne »Death in Custody« zählt seit dem Jahr 1990 181 Todesfälle in Gewahrsam. Besonders betroffen sind hierbei rassifizierte und psychisch kranke Menschen. Daraus jedoch zu schlussfolgern, bei dem Polizeiproblem handele es sich ausschließlich um Rassismus oder Ableismus, ist eine ahistorische und systemimmanente Kritik am System Polizei. Wenn die Polizei ihren Rassismus »wegreflektiert« hat, was – ganz nebenbei – niemals geschehen kann, dann ist davon auszugehen, dass sie weiterhin psychisch Kranke erschießt und dass sie weiter arme Menschen, Queers, Frauen und illegalisierte Menschen kriminalisiert und verhaftet.

Wenn die Polizei einfach nur ihre Arbeit erledigt, sorgt sie nicht für eine bessere Welt, sie sorgt für die Absicherung der materiellen Verhältnisse der oberen Klasse. Die Polizei aus dieser Rechnung auszuklammern, ist Ausdruck eines Politikverständnisses, das bestenfalls als naiv bezeichnet werden kann. Eine Aufarbeitung des Skandals tut gut daran, sich nicht am braunen Dreck allein abzuarbeiten, es muss um alle 50 Shades of Dreck gehen, zu deren Zweck die Polizei besteht.

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