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Der letzte Popsong: »Happy« von Pharrell Williams

Pop muss knallen! Zuletzt gelang dies Pharrell Williams vor zehn Jahren mit »Happy«

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.

Indie-Pop? Das ist ein Widerspruch in sich. Ein Paradoxon. Ein schwarzer Schimmel, der lautlos wiehernd durchs Pop-Universum im Trab galoppiert. Pop, wörtlich übersetzt, bedeutet nämlich Knallen. Wie ein Luftballon, der zerplatzt, oder ein Korken, der aus einer Sektflasche schießt. Und weil sogar Farben bisweilen knallen, kann Pop auch visuell sein. Dann schreien Rot, Gelb und Blau in den Bildern und selbst Menschen, die sich nicht für Kunst interessieren, schauen gebannt hin.

Weil Pop laut ist. Er fordert Aufmerksamkeit ein, will wahrgenommen werden. Nicht immer gelingt dies. Einige der klügsten Popsongs der 80er gehen auf das Konto der Brilliant Corners und der Pale Fountains. Doch in die höheren Ränge der Charts schafften sie es nie. Schon gar nicht in Deutschland, wo selbst Prefab Sprout und Elvis Costello ewige Insidertipps sind. Sie scheiterten, obwohl sie die richtige Mischung aus Euphorie und Melancholie, aus Naivität und Weisheit mitbrachten. Sie wurden von den Massen nicht erhört, obwohl ihre Songtexte eigentlich vielen aus der Seele sprachen – wenn die Massen denn davon erfahren hätten.

Pop aber duldet keine Verlierer. Anders als im Rock gibt es keine Independent-Szene. Keine zweite Liga, in der es sich über Jahre hinweg erträglich ausharren lässt, bis dann irgendwann doch, wie im Fall von Nirvana, der Aufstieg gelingt. Pop heißt: Hit oder weg! Manche haben Glück. Wie die Housemartins, die die Isley Brothers-Nummer »Caravan of Love« coverten, damit an die Spitze schossen und sich so ein Publikum erschlossen, das ihren Gitarrenpop sonst nie gehört hätte.

Doch solche Geschichten sind selten geworden im digitalen Zeitalter. Angesichts der Abermillionen von Liedern, die sich auf Spotify und Youtube tummeln, fällt es Neulingen schwer, herauszuragen. Und im Formatradio taucht das Wort »Neuheiten« in keinem der austauschbaren Senderslogans auf. Wie kann es unter derart widrigen Umständen überhaupt gelingen, einen Hit zu landen? Und zwar einen solchen, der den Namen verdient.

Anfang 2019 geriet das Album »Hoodie SZN« von A Boogie Wit Da Hoodie in die Schlagzeilen. Dem Rapper war es gelungen, mit nur 823 verkauften Platten den Gipfel der US-Verkaufscharts zu erklimmen. Zum Vergleich: Von Michael Jacksons »Thriller« gingen zu Spitzenzeiten jede Woche eine Million Exemplare über den Ladentisch. Was A Boogie Wit Da Hoodie die Nr. 1 bescherte, waren die 58 000 digitalen Einheiten. Doch hierzu muss man wissen, dass ein Song bereits dann als »gekauft« gilt, wenn ihn ein Spotify-Abonnent 31 Sekunden lang hört, bevor er wegklickt. Und was kann die Fachpresse bewirken? Vor wenigen Monaten kürte der »Rolling Stone« Tom Liwas »Eine andere Zeit« zum besten Album des Jahres 2022. Für die Verkaufscharts reichte es dennoch nicht. Die Insider bleiben unter sich, der Geheimtipp auf ewig geheim.

Für einen richtigen Hit muss man bis ins Jahr 2013 zurückgehen, um fündig zu werden. Es war Pharrell Williams, dem es mit »Happy« als Letztem gelang, das alte Pop-Prinzip – es muss so laut knallen, dass die ganze Welt hinhört – in die Tat umzusetzen. Dabei half ihm ausgerechnet ein Zeichentrickfilm: »Ich – Einfach unverbesserlich 2«, der am 5. Juni 2013 Premiere feierte. Nicht nur die Kinder haben ihren Spaß, sondern auch die Eltern, weil es mittlerweile Usus ist, solche Filme mit Anspielungen und Referenzen zu spicken, die nur Erwachsene verstehen. Ja, sogar die Musikindustrie kommt auf ihre Kosten. Wer einen Film oder eine Serie schaut, hat keine Möglichkeit, den dazugehörigen Soundtrack wegzuklicken.

Doch hätte der Film allein nicht gereicht, »Happy« zu einem Welthit zu machen. Pharrell Williams nutzte ein zweites, eigentlich totgeglaubtes Medium: das Musikvideo. In den 80er und 90er Jahren, als MTV das »Music« in seinem Namen »Music Television« noch ernst nahm, galt ein Videoclip als die beste Möglichkeit, auf einen Song aufmerksam zu machen. Damals investierte die Musikindustrie großzügig in solche Clips: 5,8 Millionen Dollar für Michael Jacksons »Bad« (Regie: Martin Scorsese), 12 Millionen Dollar für »Express Yourself« von Madonna (Regie: David Fincher). Als um die Jahrtausendwende durch die Verbreitung kostenloser MP3-Dateien die CD-Verkäufe einbrachen, war es vorbei damit. Erst recht, als mit der Gründung von Youtube im Jahr 2005 MTV endgültig seine Bedeutung als Musiksender verlor. Mit einem 4-Minuten-Clip erzeugt man keine öffentliche Resonanz mehr.

Wohl aber mit einem 24-Stunden-Video, das ein und denselben Song, nämlich »Happy«, 360 Mal hintereinander spielt und dabei Menschen zeigt, die sich zu der Musik durch die Straßen bewegen. Da bekam man allein vom Zusehen gute Laune und hatte Lust, es ihnen gleichzutun. Was zahllose Menschen dann auch taten. Ob in Tokio, Tarragona oder sogar Teheran, überall auf der Welt tanzten »Happy« People zu Pharell Williams’ Freudentaumel-Hymne. Unter wearehappyfrom.com findet sich eine (unvollständige) Liste der Orte, an denen Menschen ihr Glücklichsein rhythmisch hüpfend bekundeten. Und diesmal wurden keine läppischen 58 000 digitalen Einheiten verkauft, sondern Millionen.

So bewies der Pop ein vorläufig letztes Mal, wozu er in der Lage ist. Er vermag es, Menschen rund um den Erdball zu mobilisieren, indem er elementare Gefühle und Bedürfnisse anspricht. Zum Beispiel die Sehnsucht, endlich mal wieder glücklich zu sein. Denn jene Hölle, die sich wahlweise Alltag, Familie oder Kapitalismus nennt, führt zu einem chronischen Euphoriedefizit. Deshalb schwelgen wir in Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitstage und durchfeierte Nächte. Und darum stürzen wir uns in Scharen auf Lieder, die uns gemahnen, die Tretmühle des Lebens hinter uns zu lassen: »Let’s Go Crazy« (Prince), »Relax« (Frankie Goes To Hollywood), »Breakout« (Swing Out Sister) oder eben »Happy« von Pharrell Williams.

Natürlich ist Pharrell Williams nie wieder etwas Vergleichbares gelungen. Aber auch das gehört zum Wesen des Pop: Ein Luftballon, der zerplatzt ist, lässt sich nicht mehr aufblasen.

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