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Das arme Viertel von Sofia
Fakulteta ist eine der größten Roma-Siedlungen auf dem Balkan. Die jahrhundertelange Diskriminierung wirkt bis heute
Maya Genadieva läuft eine kahle Betontreppe hinauf, öffnet die knarrende Tür zum Anbau ihres Hauses. Von hier oben hat man einen guten Blick auf die Nachbarschaft, ein wildes Wirrwarr aus Ziegelsteinhäusern, Stromleitungen und engen Gassen. Es dröhnt Musik, ein Hund döst vor einem schmutzigen Bächlein. »Irgendwann will ich raus aus dem Ghetto«, sagt Genadieva und lässt sich auf ein Sofa plumpsen. Das Ghetto heißt Fakulteta und liegt im Westen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. 40 000 Menschen wohnen hier, zumindest offiziell. Denn es könnten noch viel mehr sein. Fakulteta ist eine der größten Roma-Siedlungen des Balkans.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Genadieva, eine Mittdreißigerin mit pechschwarzen Haaren und verschnörkelten Tattoos auf den Unterarmen, ist hier geboren und aufgewachsen. Sie hat sechs Kinder und mehrere Enkelkinder. Ihren richtigen Namen will sie lieber nicht sagen: »Ich will keine Probleme kriegen.« An der Wand hängt ein großer Fernseher, darunter stehen zwei fette Boxen. Auf dem Bildschirm sieht man Menschen, die in spektakulären Gewändern durch die engen Gassen des Viertels stolzieren, tanzen, mit Sektgläsern anstoßen. Es ist das Hochzeitsvideo von Genadievas Söhnen. 500 Gäste seien dabei gewesen, erzählt sie. Die achtstündige Megaparty kann man sich ungeschnitten bei Youtube angucken. Genadieva meint: »Wir sind stolz auf unsere Kultur.«
Roma*nja ließen sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts im heutigen Bulgarien nieder. Von dort breitete sich die ursprünglich aus Indien stammende Minderheit in ganz Südosteuropa aus. Heute werden sie auf rund zehn Prozent der bulgarischen Bevölkerung geschätzt. Die jahrhundertelange Diskriminierung wirkt bis heute nach. Viele Roma*nja sind arbeitslos und leben in Armut. Es ist ein Leben außerhalb der bulgarischen Gesellschaft, einige Expert*innen sprechen gar von einer »ökonomischen Apartheid«. Im ganzen Land gibt es Viertel wie Fakulteta.
In den 1930er Jahren siedelten sich dort die ersten Familien an. Ihre Häuser entstanden irregulär auf ungenutztem Land, in Eigenregie erbaut. In den letzten Jahren zogen viele Menschen aus ländlichen Regionen in das Viertel. Heute gleicht Fakulteta einer kleinen Stadt. Pferdewagen klappern durch die engen Straßen, gejagt von knochigen Straßenhunden. Hinter dem Steuer eines Autos sitzt ein Junge, vielleicht 13 Jahre alt, und raucht. An vielen Straßenecken lungern junge Männer mit akkurat getrimmten Boxerschnitten herum, vor einem Imbiss steht ein verwaister Hau den Lukas. Und überall toben Kinderscharen umher.
Dort, wo Maya Genadieva mit ihrer Familie lebt, sind die Straßen ungepflastert, es gibt keine Kanalisation, die Stromversorgung ist improvisiert und die Müllberge häufen sich um die Wette. Es ist einer der ärmsten Teile des Viertels – doch auch in Fakulteta gibt es soziale Unterschiede. Einige haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, ganz wenige sogar zu Reichtum. Ab und zu brummen dicke Autos vorbei, an deren Steuer Männer mit Sonnenbrillen und glänzenden Gelfrisuren sitzen. Mitten im Viertel stehen zwei prunkvolle Häuser mit Säulen und Spitzdächern, davor sitzt ein alter Sicherheitsmann auf einem Hocker. »Hier keine Fotos machen«, lautet die Ansage. In den großen Häusern wohnen mächtige Männer. Aber mehr will man nicht sagen.
Donka Georgieva hat es sich vor ihrem Haus in der Sonne gemütlich gemacht. Sie ist 47, hat blond gefärbte Haare und ein freundliches Gesicht. Die Enkelin albert auf ihrem Schoß herum. Ob die Gäste einen Kaffee wollen? Nein? Vielleicht einen Raki? Sicher nicht? Georgieva arbeitet als Putzfrau in einem Krankenhaus. Ihre Kinder leben in England und auch in Deutschland hat sie Verwandte. Sie habe nicht das »Glück« gehabt, das Land zu verlassen. In Bulgarien sei Diskriminierung Alltag. »Ich frage mich oft, warum die Menschen uns hier so schlecht behandeln.« Sie spüre die Blicke, und die geben ihr zu verstehen: Ihr gehört nicht zu uns. Und die Regierung? Die tue nichts, schimpft Georgieva. Oft gieße sie sogar noch Öl ins Feuer.
Politiker*innen jeglicher Couleur gehen mit antiziganistischen Vorurteilen auf Stimmenfang. Wenn Wahlen anstehen – und besonders, wenn die Umfragewerte der rechten Parteien niedrig sind –, werden Konflikte mit Roma*nja provoziert. Die Funktionär*innen können sich dann als die großen Retter*innen der Nation aufspielen. Das wurde auch während der Corona-Pandemie deutlich. Als die ersten Menschen mit Atemnot in die Krankenhäuser eingewiesen wurden, hieß es in vielen Medien, die Roma würden das Virus in der Stadt verbreiten. Die Polizei errichtete Straßensperren rund um Fakulteta. Die Bewohner*innen konnten tagelang ihr Viertel nicht verlassen und waren auf sich alleine gestellt. Auch in anderen Städten Bulgariens wurden rund um Roma-Viertel Checkpoints installiert. Die Zwangsinternierung löste in der bulgarischen Gesellschaft nur wenige Proteste aus.
Die Roma*nja blicken in Bulgarien auf eine turbulente Geschichte zurück. Unter der Herrschaft der Osmanen konvertierten viele von ihnen zum Islam. Die Minderheit war weitestgehend toleriert, aber ab dem 16. Jahrhundert kam es verstärkt zu antiziganistischen Gesetzen. So mussten Roma*nja mehr Steuern als andere Volksgruppen bezahlen. Mit dem Ende des Osmanischen Reiches entwickelte sich ein starker bulgarischer Nationalismus und Roma*nja waren verstärkt Diskriminierung ausgesetzt. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges war Bulgarien mit dem Deutschen Reich und Italien verbündet, doch Roma*nja wurden nicht verfolgt. Viele beteiligten sich am bewaffneten Widerstand gegen die Nazis.
In der sozialistischen Volksrepublik Bulgarien wurde die traditionelle Lebensweise der Roma nicht akzeptiert, sie blieben marginalisiert. Doch die Roma*nja hatten Arbeit in den Staatsbetrieben und wurden in Wohnungen untergebracht. Ein Dekret von 1958 hatte festgelegt, dass alle Bürger*innen einen festen Wohnsitz haben müssen. Es war das Ende des nomadischen Lebens der Roma*nja in Bulgarien. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus gerieten die Roma*nja immer mehr ins soziale Abseits. Das hing auch mit der allgemeinen Entwicklung des Landes zusammen – denn auf große Erwartungen folgten bittere Enttäuschungen. Staatsbetriebe wurden verscherbelt, Arbeitsplätze gingen verloren, die Wirtschaft kam nicht in Gang. Schnell waren die Schuldigen für die Misere gefunden: die Roma-Minderheit.
Bis heute gibt es nur wenig Kontakt zwischen der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft und den Roma*nja. Rechtlich sind zwar alle Bürger*innen des Landes gleichgestellt und 2004 wurde ein gut ausgearbeitetes Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung verabschiedet. Im Alltag werden Roma*nja jedoch auf fast allen Ebenen diskriminiert. Sie sind ärmer, haben eine geringere Lebenserwartung, sind überproportional von Polizeigewalt betroffen, auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem ausgegrenzt. Laut einer Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte werden 60 Prozent der Roma-Kinder in sogenannten Roma-Schulen unterrichtet. Und sobald Roma*nja auf eine Schule kommen, nehmen viele bulgarische Eltern ihre Kinder aus der Bildungseinrichtung. »Weiße Flucht« nennen sie das.
In Fakulteta gibt es einen Ort, der gegen die tief sitzende Diskriminierung kämpft. Am Rand eines kleinen Waldstücks liegt ein dreistöckiger Betonbau. »Herzlich willkommen im MIR-Center«, sagt eine Frau, die ihre Gäste an der Eingangstür empfängt. Es ist Elena Kabakchieva, die Direktorin der Einrichtung. Das MIR-Center ist vieles: Kindergarten, Gesundheitsstation, soziales Zentrum. Das Team arbeitet multidisziplinär und ist multiethnisch, das heißt: Auch viele Roma*nja aus der Nachbarschaft sind hier angestellt. Das Geld kommt zum großen Teil aus dem Ausland. »Mir« bedeutet Frieden auf Bulgarisch.
Kabakchieva geht die Treppe des hellen Gebäudes herauf und öffnet eine Tür. Zwanzig kleine braune Augen gucken neugierig zur Tür. Die Kinder lernen in verschiedenen Gruppen ihre motorischen Fähigkeiten auszubauen und spielerisch ihr Potenzial zu entfalten. »Die ersten 1000 Tage sind die wichtigsten für die Entwicklung eines Menschen«, sagt Kabakchieva später bei Tee und bulgarischem Gebäck. Mittlerweile werden verstärkt Gelder – auch aus der EU – in Schulen gesteckt. Laut Kabakchieva sei das grundsätzlich richtig, käme für Schüler*innen aber oft zu spät. 90 Prozent der Roma-Kinder hätten Probleme in der Schule. »Man muss schon im frühsten Alter ansetzen.«
Kabakchieva, eine agile, eloquente Frau mit Kurzhaarschnitt, arbeitet seit 40 Jahren im Bereich der frühkindlichen Entwicklung. Erst legte sie eine Wissenschaftskarriere hin, arbeitete beim Nationalen Medizin-Institut. 1998 gründete sie die Organisation, die heute das MIR-Center betreibt. Wichtig sei es ihr, nicht nur mit Kindern zu arbeiten, »sondern auch mit den Eltern«.
In der Einrichtung gibt es kostenlose medizinische Betreuung, Psychotherapie und Finanzberatung. In einer Küche stehen drei Frauen und rühren in Töpfen. Eltern lernen hier protein- und vitaminreiches Essen für wenig Geld zu kochen. Heute stehen Brokkolisuppe und Haferflocken auf dem Speiseplan. Die Ernährung sei für die Entwicklung von Kindern fundamental, sagt Kabakchieva, 80 Prozent der Roma-Kinder hätten Eisenmangel. Dies wirkt sich auf die Gehirnentwicklung und letztlich auch auf die Lernfähigkeit aus.
»Die Kinder hier sind sozial isoliert«, sagt Kabakchieva. Um dem Teufelskreis aus Armut, Gewalt und Hoffnungslosigkeit zu entkommen, brauche es neue Modelle, einen ganzheitlichen Ansatz. »Integratives Modell«, nennen sie das im MIR-Center. Dabei gehe es auch darum, das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken. »Viele Roma-Kinder denken, dass sie nichts wert sind, weil die Gesellschaft ihnen genau das zu verstehen gibt.« Was Kabakchieva besorgt: Die Toleranz der bulgarischen Gesellschaft nehme immer mehr ab. Das Feindbild Roma ist tief eingebrannt in den Köpfen vieler Menschen und die Minderheit wird für viele Probleme des Landes verantwortlich gemacht. Immer wieder entlädt sich der Hass.
Das Wassil-Lewski-Stadion liegt im Südosten der Innenstadt. Mit einem Großaufgebot ist die Polizei an diesem Nachmittag unterwegs, wie immer, wenn das Stadtderby zwischen den beiden bekanntesten Fußballklubs des Landes stattfindet. CSKA gegen Lewski. So leidenschaftlich sich die Anhänger*innen beider Teams hassen, vereint sind sie in ihren politischen Überzeugungen. In beiden Blöcken sieht man allerlei Nazi-Devotionalien, aus Tausenden Kehlen schallt es: »Ciganin, ciganin, ciganin ...« Die abwertende Bezeichnung wird nicht nur von breitschultrigen Hooligans, sondern auch von Kindern im Familienblock gebrüllt.
Bulgarische Fußballfans sind berüchtigt. Mehrfach sorgten rechte Hooligans mit Hitlergruß und rassistischen Sprechchören gegen schwarze Spieler für Eklats bei Länderspielen. Und auch abseits der Stadien gibt es oft Ärger. Im Herbst 2011 kam es zu landesweiten Ausschreitungen, nachdem ein 19-jähriger Rom im mittelbulgarischen Dorf Katuniza einen Gleichaltrigen totgefahren hatte. Ganz vorne mit dabei: Fußballhooligans. 2015 zogen Rechtsradikale und Fußballfans randalierend durch das Hauptstadtviertel Orlandovci. Beim neonazistischen Lukov-Marsch im Februar marschieren regelmäßig Fußballfans und Neonazis zu Ehren des 1943 von Partisanen hingerichteten Kriegsministers und Nazi-Kollaborateurs Christo Lukov durch die Straßen Sofias. Die Verbindung von rechtsextremer Politik und Fußball ist offensichtlich.
Die Angriffe und die Diskriminierung führen dazu, dass sich viele Roma*nja abschotten und immer in der Gruppe bleiben, um sich zu beschützen. Die Familie steht über allem. Durch die mangelhaften Perspektiven sind die meisten Roma*nja im informellen Sektor tätig. Da sie im Alter nicht abgesichert sind, setzen viele darauf, viele Kinder zu bekommen. Laut einer Untersuchung der Open Society Foundation ist die Roma-Bevölkerung in den letzten zehn Jahren um 11,5 Prozent gewachsen.
Der EU-Beitritt Bulgariens hat die Lage zumindest partiell verbessert. So gibt es etliche millionenschwere Projekte für die Integration der Roma-Minderheit. Gezielte Investitionen haben allerdings auch wieder Vorurteile angefacht. Statt für Roma*nja solle man die Gelder sozial benachteiligten bulgarischen Familien zukommen lassen, heißt es nicht selten. Bulgarien gilt als das ärmste Land der EU.
Was für viele Roma-Familien der größte Vorteil der EU-Erweiterung ist: die Freizügigkeit. Ohne größere Probleme können sie nun in reiche EU-Länder auswandern. Und das tun viele, gerade nach Deutschland. Seit der Aufnahme Bulgariens in den Schengenraum ohne Grenzkontrollen haben auch etliche Bewohner*innen Fakultetas ihr Viertel gen Westen verlassen. Genadievas Mann ist gerade in Süddeutschland, wo er auf dem Bau arbeitet. »Mit dem Monatslohn aus Deutschland konnten wir hier renovieren«, erzählt sie.
Roma*nja arbeiten in Deutschland überwiegend auf Baustellen und Feldern oder sie putzen. Es sind Jobs, die viele Deutsche nicht machen wollen. Dennoch sind sie auch in Westeuropa oft nicht willkommen, es gibt viele Vorurteile. Mitschuld daran haben auch die großen Medien. Formate wie Spiegel TV schicken ihre Reporter*innen gerne in Roma-Hochburgen wie Duisburg. Die Bilder sind fast immer die gleichen: Müllberge, heruntergekommene Treppenhäuser, empörte weiße Nachbar*innen. Nur selten wird über Antiziganismus berichtet. Zudem fehlt in der deutschen Gesellschaft eine historische Verantwortung gegenüber den Roma*nja aufgrund der NS-Zeit (siehe nebenstehenden Text). Und so hat sich auch in Deutschland das Bild der arbeitsscheuen Roma*nja eingebrannt, die sich Sozialleistungen erschleichen. »Wir wollen nichts umsonst, sondern hart arbeiten«, sagt Genadieva, »und irgendwann ein besseres Leben haben.«
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